Es schwirrt einem dieses Songfragment durch den Kopf, ein ums andere Mal erwischt man sich dabei, wie man einen Textfetzen mitsummt. Wäre man jedoch Diedrich Diederichsen, diese seit dreißig Jahren einzige Ikone der Popkritik in diesem Land, und handelte es sich bei dieser haunting melody um einen ziemlich obskuren Song der Incredible String Band, der (Hallo Unterbewusstsein!) mit einem schon 1968 geschriebenen Text wörtlich daran erinnert, man würde vermutlich, statt dieses verdammte 600-Seiten-Buch rasch weiterzuschreiben, jede Menge prokrastinieren.
Schon vor gut zehn Jahren soll die erste Fassung von Über Pop-Musik entstanden sein, ein echter Klopper ist es nun geworden und weit entfernt von jeglicher „Populärwissenschaft“. Das fängt schon beim Definitionsrahmen an. „Pop-Musik“ nennt Diederichsen den Gegenstand, eine genau bedachte Schreibweise. Es ist der Powerchord des Buches, jener mächtig knallende Schlag in die Saiten einer elektrisch verstärkten Gitarre, der die Tonart noch offen lässt, aber für garantierte Aufmerksamkeit sorgt. „Pop-Musik“ sei als eine in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts entstandene eigenständige Kulturgattung zu sehen, stellt Diederichsen klar, nicht als Teilbereich oder Weiterentwicklung von bis dato existierender „Musik-Musik“. Nur so könne man Popmusik kulturtheoretisch sinnvoll erfassen und untersuchen.
Kulturindustriekatastrophe
Popmusik als eigene Gattung zu definieren, ist ein gewissermaßen hinterfotziger Trick, eine prima Exit-Strategie. Es enthebt davon, sich mit all dem per se abwertend konnotierten Beurteilungs-Ballast abzugeben, aus dessen Sichtweise Popmusik immer nur ein minderwertiger Bastard aus Kulturindustrie und den um alles Schwierige und Relevante bereinigten Musikformen der Vorläuferzeit ist. Diese Definition widerspricht der gängigen bildungsbürgerlichen Betrachtungsweise, Popmusik als Aufsammeln der Reste nach der Kulturindustriekatastrophe, der großen kulturellen Entfremdung und Entindividualisierung, der Abschaffung des originären Künstlers und seines unkopierbaren Werks durch den Kapitalismus zu interpretieren. (Hier stehen die Fußnoten natürlich knietief in Adorno und Benjamin.) Popmusik stammt also nicht einfach nur von der Freibank-Theke des Kulturkanon. Sie auf Augenhöhe zur klassischen Tonsetzer-Kultur zu bringen, ist notwendigerweise zum Scheitern, meist auch gleich zur Lächerlichkeit verurteilt. Emerson, Lake and Palmer, eines der Flaggschiffe der orchestralen Anbiederung, nennt Diederichsen denn auch kurz und bündig „pseudo-komplexes Genudel“. Das ist immerhin recht dünnes Eis, wenn das eigene Werk vom Verlag aggressiv als „Opus Magnum“ angepriesen wird, ein Begriff, der sozusagen als Drei-Stunden-Stadionrock des Buchmarketing gelten kann, als die Antithese zum „perfect pop song“, dem Heiligen Gral der Popmusik, irgendwo zwischen zwei- und viereinhalb Minuten. Diederichsen allerdings bricht nicht ein. Penibel arbeitet er heraus, warum er Recht hat, was diese ganz eigenen Kriterien sind, an denen sich bemessen lässt, was keine andere Kulturform als Popmusik zu leisten vermag – oder wenigstens vermochte.
Da sind wir nun mitten drin in den letzten Seiten und dem Thema, um das er am Ende denn doch ein wenig herumdruckst: das Ende der Popmusik als sich entwickelnde Kultur. Denn aus der Dissidenz, der oft beschworenen „Gegenkultur“ der – wie Diederichsen es nennt – „heroischen Jahre“ werden bald reine „Style Wars“, aus der Anbindung an die gesellschaftlichen Bewegungen Abgrenzungsgemeinschaften, die nicht mal in der Lage waren, rechtzeitig – also in den gegenkulturell potenten Sechzigern – die Herrschaft über die Pop-Produktionsmittel zu erringen, sondern erst Anfang der Achtziger, als sie „bald keiner mehr braucht“. Touché.
Vorher allerdings gibt es eine ganze Menge zu klären. Kulturtheoretisch akkurat erledigt haben sich mit Über Pop-Musik ganz simple aber wesentliche Reflexvorwürfe: „Wie sieht der/die denn aus?“ Oder: „Das klingt doch alles gleich!“ Und was ist nun das Besondere, Einzigartige? Es ist der Triumph der Trivialität, die sich immer wieder kontextuell neu aus Vorhandenem bedient. Die Bindung an den Interpreten, nicht an das Songmaterial. Die prinzipielle Unaustauschbarkeit der eben nicht nur als reine Musiker agierenden Bandmitglieder. Das Ausstellen von Defekten und Nichtvermögen als unabdingbarer Vorteil gegenüber dem Perfektionismus und Hochleistungs-Können, das in einem bekannten Bonmot zum Beatles-Drummer gipfelt: „Keiner kann es so gut NICHT wie Ringo.“ Das positive Bewerten der Übertreibung, des Dickauftragens als Pathos oder einfach nur als Lautstärke. Die körperliche Wirkmacht, die sich nicht auf die physikalische Hörbarkeit beschränkt, sondern in Magengruben haut und Hosenbeine flattern lässt, praktisch nicht notierbar und nur unter bestimmten technischen und vielen weiteren Voraussetzungen zu reproduzieren.
Es sind auch die vielfältigen unauflösbaren produktiven Widersprüche: zwischen Kontrolle und (ganz im Sinne Roland Barthes’ „Punctum“-Theorie) Unplanbarkeit konkreter ästhetischer Wirkung. Zwischen „unechter“ Performance und „echter“ Expressivität, zwischen Widerspiegelung eigenen Erlebens und träumerischer Fiktion bei Interpret und Publikum. Nicht zuletzt zwischen Pose und Wesen, die sich schon deshalb nicht mehr trennen lassen, weil die Pose nachgerade zum grundlegenden Handwerkszeug nicht nur des Musikers sondern auch des Publikums gehört. Das Posen des Teenagers vor dem Spiegel (oder heute: vor der Webcam) ist ein gänzlich Pop-eigener Rezeptionsmechanismus.
Eitler Erkenntnishorizont
Das selbstverliebte Posen ist auch Diederichsen nicht fremd, die Darstellung des eigenen Erkenntnishorizonts ist ja ein Grundtenor aller Auseinandersetzung mit Popmusik; beim hitzig geführten Streit an der Bar ebenso wie im kulturwissenschaftlichen Seminar. Er verzichtet nicht auf das genüssliche Sich-gegenseitig-auf-die-Schulter-Klopfen unter den (selbsternannten; und selbsternannt ist natürlich jeder) Pop-Kennern, wenn zum Beispiel „Knallkopf“ Eric Clapton sein Fett wegbekommt. Die Vergewisserung eigener Haltung, die bedingungslose Ablehnung als „falsch“ erkannter Prämissen anderer gehört natürlich dazu.
Voran geht es nach aktuellem Kenntnisstand mit Popmusik nicht mehr. Nur noch ein bisschen weiter in die Nischen, die einzig noch nicht komplett zentral beherrschbar sind. Popmusik erfüllt noch dekorative (als Rock) oder funktionale (im Club) Aufgaben und unterstützt die Ausbildung von Identitätsformaten, Stichwort Queerness. Damit bleibt immerhin eine der traditionellen Rollen von Popmusik gesellschaftlich relevant.
Der Rest ist Aufführungspraxis. Das und all das Große Ganze besser, detaillierter – und quasi abschließend – beschrieben als Diedrich Diederichsen hat bisher noch niemand. Sein perfekter Pop-Song übrigens, stammt von Caetano Veloso: das in der Tat wunderschöne Nine Out Of Ten. Eine eventuelle Wissenslücke des Lesers lässt sich – so sind die Zeiten – via Internet problemlos schließen.
Über Pop-Musik Diedrich Diederichsen Kiepenheuer & Witsch 2014, 474 S., 39,99 €
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