Hier riecht's irgendwie komisch

Ton und Text Alle reden über die Krise der Musikindustrie. Viel schlimmer ist die zyklische Krise: Der Popkultur ist in den "Nullern" die musikalische Revolution abhanden gekommen

Dekaden takten unsere Zeitrechnung und da sich die „Nuller“ – ein besser klingender Begriff wird wohl nicht mehr gefunden werden – vollenden, wird es Zeit für die Bilanz. Sowieso in der Popmusik, deren System von Hitlisten durch und durch geprägt ist. Allerorten reüssiert werden also die Alben, die Songs, die Künstler, die Trends des Jahrzehnts (meist irgendwas mit The Strokes oder Amy Winehouse).

Es gäbe auch sonst etliches zu bilanzieren: Digitalisierung, Internet (immer wieder gern im Zusammenhang mit „Piraterie“ und „Krise der Musikindustrie“) oder der Niedergang des klassischen Popmusikjournalismus. (Der sich hierzulande nicht entblödet, ausgerechnet zwei seiner einflussreichsten Printmedien, Intro und Spex, mit Covern von Tokio Hotel und Robbie Williams ins neue Jahrzehnt zu entlassen. Dann doch lieber gleich der Blick ins gehobene Feuilleton, wo zunehmend Popdiskurs gepflegt wird.)

Notgedrungen nicht benannt in all der Rückschau sind die umwälzenden musikalischen Innovationen. Das Problem ist schlicht: Es gab keine. Dieses Jahrzehnt ist das erste der Popmusik, das keine musikalische Neuorientierung, keinen Umsturz bieten konnte. Es gibt seit den Mittneunzigern (mit Drum Bass und seinen Breakbeat-Derivaten) keinen originären neuen Stil.

Jedes der fünf Jahrzehnte vorher – wenn man denn mal etwas pauschalisierend die Fünfziger und klassischen Rock’n’Roll als Startpunkt setzt – hatte etwas grundsätzlich Neues, Aufregendes zu bieten. Rock und Pop an sich, Punk und Disco, New Wave und HipHop, Techno – schon dieser brutal verkürzte Überblick zeigt: Kein Jahrzehnt ohne eigene Musikrevolution, ohne neue Jugendkultur, ohne einen neuen Weg der Dissenz zum Elternhaus auf musikalischer Basis.

Bye Bye Relevanz

Der Paradigmenwechsel der Neunziger ist technologisch, kommunikativ, geschäftlich – nicht jedoch musikalisch. Fast hat man den Eindruck, all die neuen, natürlich fantastischen Möglichkeiten der Musikproduktion und -verteilung würden die Akteure an musikalischen Visionen hindern. Oder ist das Prinzip Popmusik einfach nur ausgereizt, nur noch mit Diversifizierung, Hybridisierung und natürlich ordentlich Revivaltümelei am Leben zu halten?

Das ist naheliegend, wie der Metiervergleich zeigt: "Jazz ist nicht tot, er riecht nur komisch“, merkte Frank Zappa schon 1974 genüsslich an. In der Tat hat sich seitdem nicht mehr allzuviel getan. Jazzfestivals gibt es zwar immer noch wie Sand am Meer, aber das zunehmend überalterte Publikum wird mit Altmeistern geködert oder gleich mit – sic! – Popmusikern. Ein Dreivierteljahrhundert hat es also gebraucht, Jazz auszuschöpfen.

Der Neue-Musik-Avantgarde gehts auch nicht besser: Zwischen (wir rechnen großzügig) Wagners Tristan und Cages HPSCHD liegen gerade mal gute hundert Jahre. Die gute alte Oper lässt sich über den Daumen mit dreihundert Jahren veranschlagen. Da muten angesichts der immer kürzeren historischen Zyklen die fünfzig für Pop eigentlich ganz planmäßig an. Bei bedeutend mehr Publikum und – siehe oben – deutlich mehr gesellschaftspolitischem Einfluss in den besten Lebzeiten.

Diese Relevanz ist der Popkultur im ausklingenden Jahrzehnt also gründlich abhandengekommen. Sie ist halt einfach nur noch Kultur, die sich aus der Substanz ihrer Vergangenheit speist. Inzwischen etablierte Kultur wohlgemerkt, nur noch nicht so umfassend lebenskonservierend subventioniert wie allgemein für erhaltenswert geschätzte Kulturen vor ihr. Aber auch das ist in Arbeit, wie Feuilletonpräsenz, Jazzkontakte oder der sich allenthalben ebnende Weg ins Theater zeigen.

Schöner wärs indes, man täuschte sich und es gab eben doch nur ein kleines Atemholen, bevor die Kids in den Probekellern und Studios dieser Welt eine neue Pop-Revolution ausbrüten. „Zehner“ macht später in den Musiklexika sowieso mehr her als „Nuller“.


Dieser Artikel ist in Kooperation mit entstanden.www.motor.de


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