„We go down to the indie disco every thursday night, dance to our favourite indie hits until the morning light, at the indie disco“ singen The Divine Comedy in ihrem wundervoll melancholischen und doch ironisch untersetztem Geheimtipp-Hit „At The Indie Disco“ von 2010. Neil Hannon, der ist The Divine Comedy, kennt sich aus, er selbst zählt zu den Ikonen der britischen „Indie“-Kultur, die sich – das ist das eigentliche Thema dieses Songs – in nostalgischer Wehmut nach besseren Zeiten verzehrt: „Give us some Pixies and some Roses and some Valentines. Give us some Blur and some Cure and some Wannadies. And now we're moving to the beat, and staring at each others feet.“
„Indie“ ist einer der am häufigsten verwendeten Begriffe in der Popkultur, hergeleitet von „independent“. Unabhängigkeit von den großen Plattenfirmen – von ihren schwerfälligen Apparaten, den altbackenen künstlerischen Vorstellungen, dem vermeintlichen Arbeiten gegen die eigentlichen Interessen eines Musikers – war das entscheidende Abgrenzungsmerkmal der explodierenden Musikvielfalt des Postpunk ab Ende der Siebziger. Labels wie Mute oder Rough Trade setzten auf Strukturen abseits der bisher dominierenden Major-Labels, verpflichteten gern experimentellere Musiker, pressten ihre Platten selbst, bauten neue Vertriebskanäle bis hin zu eigenen Plattenläden auf – und verkauften oftmals nicht schlecht. In den Charts spiegelte sich das indes nur selten wider, erfasst wurden nur die Umsätze der großen Ketten, die beträchtliche Anzahl der Independent-Recordshops blieb außen vor. Ein einigermaßen realistisches Abbild der neuen selbstbewussten Sparte musste her. Seit 1980 gibt es die britischen Independent Charts.
Wie wichtig die britische Independent-Szene in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren für das allgemeine Popkultur-Bewusstsein wurde, lässt sich am mehrdeutigen „Indie“ gut ablesen. Bis heute gilt der Begriff als fluffige Abkürzung für ein „independent“ Geschäftsmodell. Verbunden wird damit aber sehr oft auch eine ganz bestimmte stilistische Vorstellung, eben jener gitarrengeprägte Pop, der von den Smiths, Stone Roses oder auch Wannadies entscheidend geprägt wurde. Es ist tatsächlich der Sound, der heute noch in „Indie Discos“ gern gepflegt wird. Mit der geschäftlichen und stilistischen Realität des „Independent“ der Gegenwart hat er nichts gemein.
Fünf Mal findet man Adele in den aktuellen Top 25 der UK Indie Singlecharts, fast schon selbstverständlich auch an der Spitze; mit „Skyfall“, dem Titeltrack des jetzt schon in Großbritannien erfolgreichsten Blockbuster-Films aller Zeiten. Ist das noch „Indie“? Ja, zweifelsfrei. Adele veröffentlicht auf XL Recordings, die wiederum zur Beggars Group gehören, einem Zusammenschluss mehrerer klassischer Independent-Labels. Die hauptsächlichen Kriterien für die Einstufung als Independent sind relativ simpel: Die Firmen müssen Inhaber-geführt sein, unabhängig von den – noch drei – Major-Labels agieren. Diese dürfen also nicht Mehrheitseigner sein. Die Beggars Group ist der mit Abstand weltweit Größte der Independents, gerade Adele hat dazu noch einmal erheblich beigetragen.
Vor ziemlich genau zwei Jahren erschien ihr Album „21“, seitdem ist es praktisch ohne Unterbrechung das dominierende Pop-Album in den weltweiten Charts – im Teilbereich Independent potenziert sich dieser Effekt noch. Schön ablesen lässt sich das an den offiziellen deutschen Independent Charts. Denn die existieren in dieser Form eben genau zwei Jahre. Initiiert wurden sie vom VUT, dem Dachverband der deutschen Independent-Labels. Erhoben werden sie vom Quasi-Monopolisten in Sachen Charts, der Media Control. Die filtert ihre Datenbestände und sortiert dafür die Majors aus. Klassische „Indie“-Kultur, so wie sie gerade an den Donnerstag-Abenden in den Clubs gern gepflegt wird, sucht man in diesen Charts natürlich vergeblich.
Die 2012 in Deutschland meistverkauften Independent-Alben kommen von den Toten Hosen, Adele, Xavier Naidoo, den Ärzten und – der entspricht noch am ehesten dem Independent-Rollenmuster – Cro. Nur unter ferner liefen (und noch hinter Nena oder gar den Amigos!) rangieren Musiker, die man gemeinhin sofort unter „Indie“ verbucht: The XX, Kettcar oder Cat Power. Bedingt ist diese – wenn man so will – Verzerrung vor allem durch die Arbeitsweise nahezu aller wirklich großen deutschen Bands. Die agieren mit tatsächlich unabhängigen Plattenfirmen, gegründet in der Regel nur für die Arbeit mit einer einzigen, eben der eigenen, Band. Das garantiert die weitestgehende Kontrolle über alle Aktivitäten, die Veröffentlichungspolitik und natürlich auch die damit verbundenen Geschäftskonditionen und den somit optimierten Gewinn. Bands wie die Toten Hosen können den Majors sogar bis zu einem gewissen Grad Bedingungen diktieren, um deren umfassende Vertriebskanäle zu nutzen. Es ist Independent von ganz oben.
Um das zu berücksichtigen und eine andere Gewichtung zu erhalten, gibt es inzwischen zwei ergänzende Zählweisen: Die „Distributor Charts“ schließen jene Künstler aus, die einen solchen Major-Vertriebsdeal haben, die „Newcomer Charts“ sollen den extremen Einfluss von Langzeit-Bustern wie Adele ausschließen. Aber auch diese „bereinigten“ Charts dürften dem herkömmlichen Indie-Fan noch schwer genug im Magen liegen, geben sie doch ein einigermaßen realistisches Bild davon ab, was in Deutschland abseits des Mainstreams tatsächlich gekauft, also auch gehört wird. Da finden sich dann neben Proto-Nazis wie Frei.Wild und Dämlack-HipHop der Marke Kurdo („Ghettofilm“) und Kaisaschnitt auch solche Perlen wie „Rebecca – das Musical“ (ist exakt das, was man vermutet) oder „Stimmen des Südens“ – ein FC-Bayern-München-Fanalbum, das auch weniger popkulturell geprägten Menschen mühelos die Schuhe auszieht. Da ist man dann doch mit Adele gar nicht so schlecht bedient.
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