Es dürfte die größte Versammlung von Szenehelden werden, die man jemals gesehen hat. Das Line-up der Metalheadz History Session an diesem Freitag in London ist erlesen und umfangreich: Goldie, Ed Rush, Dillinja, Storm, Grooverider, Doc Scott, Source Direct, 4 Hero … man könnte noch eine Weile weiter machen. Kurz und gut: Es ist so eine Art Pflichttermin für die gesamte Londoner Drum & Bass-Szene, aber auch mit gewisser globaler Wirkmächtigkeit. Und es wird – soviel ist sicher – ein denkwürdiger Abend für alle, die dort sein werden. Das sind ungefähr 1.500 Leute.
So viele passen gerade in den Fire Club, es ist eine etwas ernüchternde Zahl. Jede Mittelklasse-Indieband bekommt so ein Publikum auf die Reihe, von den Besuche
Fire Club, es ist eine etwas ernüchternde Zahl. Jede Mittelklasse-Indieband bekommt so ein Publikum auf die Reihe, von den Besucherzahlen ganz normaler DJ-Stars im aktuellen EDM-Rausch ist das so weit entfernt wie eine andere Galaxie. Drum & Bass ist eine Randerscheinung im aktuellen Clubgeschehen. Und genau das ist seit 20 Jahren die Überlebensgarantie der Szene.„Drum & Bass ist tot“ ist schon seit Mitte der Neunziger ein Running Gag bei all jenen, die sich in irgendeiner Form mit der Musik beschäftigen, die man mit Fug und Recht als die letzte große Genre-Innovation der Popmusik ansehen kann. Erwachsen aus den wilden Breakbeat-Attacken von Jungle mit seinen Wurzeln im jamaikanisch geprägten Dancehall, war Drum & Bass die bis dato wohl konsequenteste Umsetzung von zeitgenössischer elektronischer Musikproduktions-Technologie. Derartige, buchstäblich vorher unerhörte Experimente in vertrackter Rhythmik, unwirklich anmutendem Timestretching und dem brutalen Verschmelzen von Extrem-Basskultur mit klassischen Rave-Signalen und melodischen Fragmenten gab es in den frühen Neunzigern plötzlich in Serie. Es war eine ungeheure Aufbruchsstimmung auf den Floors und in den Plattenläden. Drum & Bass war der Sound der Stunde, als Goldie 1994 mit dem DJ-Duo Kemistry & Storm das Label Metalheadz gründete. Da hatte er mit „Inner City Life“ gerade den ersten echten Hit des Genres vorgelegt. Auf seinem Debüt-Album wurde daraus die bis heute atemberaubende 21-Minuten-Sinfonie „Timeless“, mit der Goldie gleich noch den Anspruch als ernstzunehmende Musik formulierte, die eben nicht nur für den Dancefloor gedacht war.Drum & Bass war also das gefühlte next big thing, von dem jeder erwartete, dass es in jedem Moment durch die Decke gehen und für die nächsten paar Jahre Charts und Plattengeschäft dominieren würde. Das passierte indes nie, im Gegenteil. Nach ein paar halbherzig angelegten und kaum erfolgreichen Testballons mit sehr vocalhousig-poppig angelegten Tracks, ließen die Majorlabels schnell die Finger vom Thema. Airplay gab es demzufolge nur in spezialisierten Sendungen. Gleichzeitig übernahm zumindest in Festland-Europa Techno per Loveparade-Präsenz und Kirmes-Sound die Hoheit über den Mainstream-Dancefloor. Drum & Bass blieb in der Nische. Wer in Deutschland die meist britischen DJs erleben wollte, musste nach Köln oder Leipzig reisen und erlebte in den 800er-Clubs sein blaues Soundwunder. Die Gigs mit Dom & Roland, Ed Rush oder Kemistry & Storm waren nichts anderes als eine Offenbarung, was man einem in Ekstase tanzenden Publikum an irren Breaks, Soundverdrehtheiten und gnadenlosem Bassinferno zumuten konnte. Mehrheitsfähig war das letztendlich nie. 1999 lieferten Kemistry & Storm ihren Beitrag zur legendären „DJ Kicks“-Samplerreihe, es war so etwas wie die Bilanz der wilden Jahre. Als Kemistry im gleichen Jahr auf tragische Weise bei einem Autounfall ums Leben kam, schien die Ära Drum & Bass für die große Öffentlichkeit prinzipiell beendet.Vorbei war aber gar nichts. Bis heute gibt es eine enorm rege Drum & Bass-Szene, für die die Begrifflichkeit „klein aber fein“ ebenso angebracht scheint wie „familiär“. Der Gedanke, als Crew zu agieren, das verschworene Gefühl, für immer Underground zu sein, und eine hohe personelle Beständigkeit macht die Szene bis heute aus. Wie es sich anfühlt, von ihr verstoßen zu werden, konnte Alex Reece schon damals erleben. Mit „Pulp Fiction“ hatte er einen der bis heute geltenden Klassiker des Genres produziert und galt als das kommende Genie. Als er sich mit Übervater Goldie entzweite, bekam er nie wieder einen Fuß in die Tür und verschwand mehr oder weniger sang- und klanglos von der Bildfläche. Bestimmt, was gut oder schlecht für die Szene sein könnte, haben seit jeher nur ein paar Handvoll Leute bei einem halben Dutzend Labels. Von damals bis heute überlebt, ohne sich einem kompletten Stilwechsel zu unterziehen, hat eigentlich nur Metalheadz. Welches Glück Drum & Bass damit hatte, am ganz großen Erfolg vorbeigeschrammt zu sein, ließ sich 15 Jahre später im Zeitraffer begutachten: Dubstep eroberte im Handumdrehen die Floors der Welt, war per DJ Skrillex entscheidender Auslöser des Hypes um EDM – Electronic Dance Music –, lieferte ein paar Hits und war hierzulande sogar bis in das Finale von Germany’s Next Topmodel überpräsent. Das Ergebnis war verbrannte Erde, fluchtartig verließen die künstlerisch prägenden Produzenten das Areal. Heute ist Dubstep praktisch tot. Drum & Bass lebt. Und feiert dieser Tage 20 Jahre Metalheadz.