Loud’n’Proud

Ton & Text Ob Wacken oder Kreuzberg: Lautstärke gehört zum Markenkern von Popmusik. Das gibt natürlich Probleme. Aber Leise darf nicht das neue Laut werden
Loud’n’Proud

Foto: Patrick Lux/ AFP/ Getty Images

Diesmal sind es drei gegen 75.000. Drei Anwohner finden, dass die 75.000 ihre Musik ein wenig zu laut hören. Dass es laut ist, daran besteht kein Zweifel, es handelt sich schließlich um das Wacken Open Air, eines der größten Metal-Festivals der Welt. Wacken liegt mehr oder weniger im Nirgendwo, eine kleine Gemeinde, deren Einwohner alljährlich – zur Wacken-Zeit – beliebtes Thema launiger Berichterstattung sind. Zu schön ist der Gegensatz zwischen vermeintlicher bäuerlicher Biederwelt und (oft genug ebenso biederer; aber das ist ein anderes Thema) Metal-Wildheit. Wobei das Thema immer die Toleranz ist, mit der die meist älteren Einwohner ihre Gäste empfangen. Nur eben nicht diese drei, die sich vom Lärm unzumutbar gestört fühlten und teilweise klagten.

Wacken ist nur das aktuellste und – ob seiner Größenordnung – aufmerksamkeitsheischendste Problem mit dem Lärm. Der Standard: Es gibt immer mindestens einen in der Nachbarschaft, der sich von jedweder Musik gestört fühlt. Jeder Clubbetreiber, jeder Musikveranstalter kann die Story vom unerbittlichen Anwohner erzählen, der jede Gelegenheit nutzt, sich über Lärmbelästigung zu beklagen. Auch die Ämter in Vierteln mit hoher Clubdichte kennen ihre Pappenheimer meist schon, wenn die mal wieder einen erbosten Brief geschrieben oder gleich die Polizei gerufen haben. Das Anwohner-Appeasement im unmittelbaren Umfeld steht bei längerfristig planenden Veranstaltern ganz oben auf der Prioritätenliste. Denn ohne angemessenen Lärmpegel kommt eine Musikveranstaltung nun mal nicht aus.

Lautstärke zählt seit ihrer elektrischen Verstärkung zum Markenkern von populärer Musik, ob Gitarren geschwenkt oder Knöpfchen gedrückt werden, ob sich ein Schlagzeuger auf der Bühne austobt oder eine unter dem Dancefloor eingebaute Bassbox wummert. Diesen Faktor nach innen und außen zu domestizieren, ist heutzutage nichts Ungewöhnliches, im Gegenteil. Kaum ein größeres Konzert ist noch denkbar, bei dem es keine Ohrstöpsel an der Garderobe gibt. Erstaunlich viele erstaunlich „vernünftige“ noch junge Menschen stellen sich auch bei Indie-Konzerten nicht ohne Hörschutz vor die Bühne. Modernes Sounddesign und Schall-Hitec dienen gerade bei Open-Air-Veranstaltungen schon lange nicht mehr nur dazu, dem Publikum auch unter schwierigen Bedingungen optimalen Klang zu liefern. Mindestens ebenso wichtig ist die Minimierung der nach außen dringenden Lärm-Emission. Aber am Ende hilft auch die modernste Technik oft genug nicht wirklich. Wenn zum Beispiel Raucher permanent die vielleicht sogar schalldichte Tür eines Clubs öffnen – ein eigentlich ganz simples Problem, das vor der Einführung des allgemeinen Rauchverbots kaum jemand auf dem Schirm hatte und für das es vom „Tür zu!“-Schild bis zu eigens platzierten Ordnungskräften verschiedenste Problemdämpfungsstrategien gibt.

Im Gegenzug gilt akustische Lufthoheit beim gemeinen Pop- und Rockmusikhörer immer noch als hohes Gut, auch wenn statt der früheren Monster-Ghettoblaster auf der Straße oder gleich Schulter – das klassische Bild der jugendkulturellen Schalldominanz im öffentlichen Raum – heute dem Klang überdimensionierter Bassrollen im Kofferraum oder von blechern scheppernden Teenager-Handys in Bus und Bahn gewichen ist. Auf einem anderen Blatt steht, dass eben dieser öffentliche Raum zunehmend auch von anderen systematisch zugelärmt wird. Keine Ladeneröffnung ohne plärrende Lautsprecher vor der Tür, kein Weihnachts- oder Sonstwie-Markt ohne Karussell mit berechenbar grauenhafter Schlagerdröhnung. Treppenwitz dieser Entwicklung: Ausgerechnet die per Kirchenglocken jahrhundertelangen Inhaber des öffentlichen Lärmmonopols – die Pfarrer – beschweren sich zunehmend über die akustische Vermüllung der Innenstädte durch eben solche Jahrmärkte.

„Lärmschutz“ ist auch anderweitig zum ideologisch konnotierten Kampfmittel geworden. Ein Gutteil der derzeit heiß diskutierten Gentrifizierungs-Auseinandersetzungen wird gegen Clubs geführt. Es ist die alte Geschichte: Ein lebendiges „Szene“-Umfeld macht Wohngebiete attraktiv, dazu gehören selbstverständlich Clubs und Musikkneipen. Verändert sich in der Folge die Miet- und Bevölkerungsstruktur, lassen sich Wetten abschließen, wann diese Lärm-Zentren auf der Abschussliste der ruhegestörten Neubürger landen. Das trifft dann gar auch mal einen so legendären und langlebigen Club wie das Berliner SO36 mit Standort im Herzen Kreuzbergs. Haarscharf an der Kapitulation vorbei ging es für die Subkultur-Institution vor knapp drei Jahren. Mehrere zehntausend Euro kostete die plötzlich geforderte Lärmschutzwand zum angrenzenden Mietshaus, aufgebracht durch einen kollektiven solidarischen Spendenkraftakt. Weniger Glück hatten der ebenso legendäre Knaack Club, das Ballhaus Ost und eine Unzahl weiterer nicht ganz so prominenter Läden vor allem in der bundesdeutschen Gentrifizierungs-Kampfzone Nummer eins: Prenzlauer Berg.

Dass die vorauseilende Rücksicht auf Lärmempfindliche ästhetisch aber voll nach hinten los gehen kann, zeigen die aus dem Boden sprießenden Kopfhörer-Discos. Freiwillig auf den körperlichen Aspekt des Hörens – die Bassdrum im Magen, die „wall of sound“ – zu verzichten, erscheint zumindest Oldschool-Hörern fast noch spießiger, als sich über Lärm zu beschweren. In Wacken hat man sich übrigens – zumindest vorerst – gütlich geeinigt. Wenn es vor dem Fenster der Wackener mit mehr als 70 Dezibel dröhnt, fließt Geld an soziale Einrichtungen. Einen – sagen wir mal – interessanten Aspekt des Lärmpegels auf Festivals hat dabei ausgerechnet der Leiter des zuständigen Ordnungsamts aufgezeigt: In Roskilde seien im Jahr 2000 Menschen gestorben, weil das Publikum in Massen zur Bühne gedrängt hätte. Hinten war es zu leise.

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