Smells Like Corporate Spirit

Ton & Text Der Run auf die englische Xmas-No.-1 läuft. Gegen die X-Factor-Siegerinnen in den Ring geworfen werden Plüsch, echte Tränen und … nun ja … Nirvana

Die vier – man darf es ausnahmsweise sagen – Mädels sehen selbst nach britischen Samstagabend-Druckbetankungs-Maßstäben ziemlich ordinär aus. Wie diese Teenager, die man aus all den Reality-Soaps kennt, und bei denen man gar nicht mehr so recht unterscheiden kann, ob das Fernsehen die Wirklichkeit in grotesk verzerrter Weise abkupfert – oder ob sich die Lebenswirklichkeit dieser jungen Frauen nach den TV-Shows ausrichtet. Diese vier jedenfalls könnten original aus irgendeiner auf Zickenkrieg angelegten Wohngemeinschaft einer Scripted-Reality-Doku stammen. Sie sind allerdings Little Mix, eine „Band“, die dann aber tatsächlich direkt aus einer Fernseh-Show stammt, zusammengesetzt innerhalb der Sendung, wo die vier Kandidatinnen erst zu Duos und letztendlich zum Quartett verschmolzen wurden.

Es ist indes nicht irgendeine Sendung, sondern die Casting-Show, die – zumindest auf der Insel – das Feindbild Nummer eins aller sich selbst als „echt“ begreifenden Musikfans ist. Diese lupenreine Castingband ist – so geht es auch zu in britischen Gefilden – jetzt der Topkandidat für die symbolträchtige Weihnachts-Nummer-1 der traditionell heißesten Singlecharts der Welt. Dieser Platz ist seit Anbeginn von X-Factor für dessen Sieger praktisch reserviert – in diesem Jahr sind es Little Mix, die in der letzten Woche prompt für den Jahresrekord der am schnellsten verkauften Single des Jahres sorgten und mit 210.000 Stück mehr verkauften, als die fünf weiteren Chartspositionen zusammen. (Nach X-Factor-Maßstäben allerdings immer noch ein äußerst bescheidener Umsatz.)

Gewiss können sie sich des Spitzenplatzes in der Weihnachtswoche jedoch längst nicht sein, denn seit es vor zwei Jahren einer Facebook-Initiative gelang, ausgerechnet Rage Against The Machines Protest-Smash-Hit „Killing In The Name“ per Online-Download-Handstreich ganz nach oben zu hieven, gilt es als ausgemachte Tradition, dass sich im Vorfeld der gerade laufenden Wertungswoche diverse Akteure öffentlichkeitswirksam zum Kampf um die Eins in Stellung bringen. Höchst bemerkenswert war im Vorjahr zum Beispiel der sehr ehrenvolle, allerdings auch – Achtung: Kalauer! – sang- und klanglos gescheiterte Versuch, John Cages Avantgarde-Klassiker „4’33’’“ in die Annalen eingehen zu lassen. Trotz geballter Unterstützung der Hälfte der ernstzunehmenden Musikszene des Landes, landete das stille Werk nur unter ferner liefen.

In diesem Jahr gibt es – neben Little Mix – vor allem drei Aufsehen erregende Nummer-1-Kandidaten, darunter zwei weitere mit einer mehr oder weniger direkten TV-Herkunft. The Wombles sind eine Kostüm-Band, deren Inspiration auf einer hierzulande praktisch unbekannten Kindersendung der Siebziger beruht. In diesem Jahr „reunited“, traten sie mit ihrem zeitlosen Bubblegum-Pop sogar auf dem Glastonbury-Festival auf, eben erschien mit „The W Factor“ ein „Best of“-Album inklusive aktueller Weihnachtssingle. Das zugehörige Video zeigt – das kann man durchaus satirisch finden – eine Wombles-Castingshow.

Wegen des erhöhten Tränendrüsenfaktors und angesichts des angemessen weihnachtlich-ernsthaften Hintergrunds stehen die Quoten bei den Buchmachern sogar noch besser für den Military Wives Choir. „The Choir“ heißt die BBC-Doku-Show, die im November einen Amateur-Chor von Frauen beobachtet hat, deren Männer als Soldaten in Afghanistan dienen. Musikalisch ist das selbstredend indiskutabel – aber was zählt das schon, wenn es um Albions Mannen auf den Schlachtfeldern geht?

Gegen Plüsch und echte Tränen durchsetzen soll sich „Nirvana For Christmas No.1“, die Neuauflage der Rage Against The Machine-Facebook-Kampagne, die „Smells Like Teen Spirit“ ins Feld führt und die naturgemäß am ehesten dem Grundgestus des ursprünglichen Protests gegen die allweihnachtliche X-Factor-Penetranz entspricht. Zumindest auf den ersten Blick. Vor gut zwanzig Jahren erschien Nirvanas Popmusik-Meilenstein Nevermind. Es gab im Herbst eine opulente Neuveröffentlichung, die im Reigen der kaum noch zu überschauenden Re-Releases allerdings auch nicht weiter auffiel. Smells Like Teen Spirit sollte jedenfalls – ginge es nach Universal Music – auf die Nummer eins der Charts zu bringen sein, was „der riesengroßen Nirvana-Fangemeinde leicht fallen“ sollte, wie der hiesige Ableger damals verlauten ließ. Gültig für die Woche vom 9. bis 15. September. „Jeder engagierte Rockfan sei hiermit aufgerufen, sich an der Aktion zu beteiligen.“ Klingt dämlich, ist dämlich und hat natürlich auch nicht geklappt.

Aber das heißt ja nicht, dass man es nicht gleich nochmal versuchen kann: „Nirvana-Fans wollen bis zum Letzten kämpfen“, heißt es jetzt, gerade mal ein Vierteljahr später, was in seiner strunzdummen Peinlichkeit sogar ausgewiesene Musikindustrie-Zyniker schmerzen sollte. Aber was tut man als größte Plattenfirma der Welt nicht für ein wenig Extra-Umsatz zum Jahresende. Universal ist also „very supportive“, wie der Initiator von „Nirvana For Christmas No.1“ verlauten lässt, und nein, „Astroturfing“ sei das „absolutely not“. Äh, ja … Hoffentlich gewinnen The Wombles. Notfalls nehmen wir sogar Little Mix. Die sind wenigstens simples aber immerhin ehrlich-stumpfes Corporate Business.

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