Soul Time!

Ton & Text Das Herz des andauernden Soul-Hypes schlägt in Brooklyn. Vor zehn Jahren gründeten Gabriel Roth und Neal Sugarman hier das Label Daptone Records

Man kann sich die Welt auch ganz klein vorstellen, als einen Platz, in dem es immer irgendeinen Anknüpfungspunkt für Gemeinsamkeiten gibt, als eine Welt, in der Augusta, Georgia, und Brooklyn, New York, nur eine Handbreit auseinander liegen. Man wüsste in der Stadt gar nicht so richtig, was man an Sharon Jones hätte, vermeldete unlängst der Augusta Chronicle, die Tageszeitung der 200.000-Einwohner-Stadt und begrüßte die Soul-Sängerin zurück in der Heimat. Es ist die Stadt, in der vor Zeiten James Brown aufgewachsen ist, der ungebrochen als ein Maß der Dinge in der Welt der „Schwarzen Musik“ gilt und der nur unwesentlich weniger Impersonators als Elvis aufweisen kann.

Einer, der jahrelang ein James-Brown-Imitator war, hat Anfang dieses Jahres sein Debüt-Album veröffentlicht – mit 62 Jahren. Charles Bradley floh mit 15 von daheim, war Koch und Tagelöhner. Seine Schwester hatte den Jungen vorher, 1962, noch in ein Konzert von James Brown im Apollo Theater eingeladen, es wurde eine Obsession, die ihn nie wieder los ließ. Ausgerechnet als er irgendwann ernsthaft sesshaft werden wollte, wurde er gefeuert, zog zurück zu seiner Mutter – nach Brooklyn – und wurde Sänger. Ein James-Brown-Imitator, der mitansehen musste, wie eines Tages ein Leichenwagen vorfuhr, um seinen erschossenen Bruder abzuholen, der um die Ecke wohnte. The world is going up in flames singt er heute, es ist der vielleicht am meisten ans Herz greifende Song dieses Jahres (obwohl er eigentlich schon 2007 aufgenommen wurde).


Retromania heißt ein derzeit vieldiskutiertes Buch des englischen Popmusikfanatikers Simon Reynolds. Es beschreibt die immer kürzer werdenden Zyklen, in denen sich Popmusik selbst referiert, die immer kürzere Zeitspanne, bis ein Trend als „retro“ begriffen und wieder aufgenommen wird. Es ist – so Reynolds – eine Entwicklung, die den musikalischen Fortschritt durch ein Baukastensystem an schon existierenden popmusikalischen Verweisen und Bezügen ersetzt.

„Retro“ ist auch der am meisten genutzte Begriff, wenn es darum geht, den erstaunlichen Boom von Soulmusik zu begreifen, der in den letzten Jahren vor allem von jungen Weißen sehr publikumswirksam betrieben wurde: Amy Winehouse, Duffy, Adele, Mark Ronson sind die Leuchttürme dieses Trends, allesamt Briten, die den sowieso schon immer brodelnden Northern Soul englischer Prägung einen Tick zurückdrehten und ihn aus dem geschlossenen Zirkel der Allnighter-Cliquen, der Vinylsingle- und Mod-Fetischisten herausholten und mehrheitsfähig machten. Auf der anderen Seite des Ozeans befreiten sich Sänger vom Ballast der Hyperproduktionen des R’n’B und HipHop, sie orientierten sich zurück hin zum Song und zur Band. Ausgewachsene Hits gab es für Cee-Lo Green, Raphael Saadiq und natürlich Aloe Blacc, der mit „I Need A Dollar“ das weltweit wahrgenommene Flagschiff des Sounds wurde.

Entstanden ist „I Need A Dollar“ in Brooklyn, nur ein paar Straßenzüge entfernt vom unauffälligen Büro, wo heute das Herz des Soul schlägt. Vor zehn Jahren gründeten Gabriel Roth und Neal Sugarman das Label Daptone Records, in klassischer Soul-Manier mit einer angestammten Hausband, den Dap-Kings. Keine zwei Alben pro Jahr wurden bisher veröffentlicht, mit zehn Künstlern ist das Ensemble, das unter Vertrag steht, überschaubar. Trotzdem – und vor allem seit Mark Ronson die Dap-Kings für Amy Winehouses Back To Black verpflichtete – gilt Daptone als das Epizentrum des aktuellen Soul, dem man ebenfalls gern das Etikett „retro“ anheftet, was dem Label, seinen Musikern und dem Soul an sich allerdings eher Unrecht tut.

Denn Soul ist eines der raren wirksame Gegengewichte zum sich schneller drehenden Karussell der Referenzen, Zitate, Pastiches oder dreisten Kopien. Es ist sicher auch der Flucht daraus zu verdanken, das Soul wieder so angesagt ist, einer noch mehr als sonst schon forcierten Suche nach „Wahrhaftigkeit“ und „Authentizität“, die ja beide in einem Popkontext sehr schwierig zu schluckende Begriffs-Koordinaten der ernsthaften Beschäftigung sind. Soul ist – da hilft der allgegenwärtige Mythos der Wahrheit nur ein bisschen nach – Musik von richtigen Menschen mit richtigen Leben, wie eben das von Charles Bradley. Oder das von der heute 55-jährigen Sharon Jones, die Gefängniswärterin war und Wachfrau in Transportern von Wells Fargo. Es sind die typischen schwarzen Vertreter jener „99 Prozent“, denen das System die einfache Gerechtigkeit vorenthält.


Heute gilt Sharon Jones – abseits der Charthit-Zwänge – als eine der beeindruckendsten Soul-Sängerinnen der Welt. Ihre Band sind die Dap-Kings, Daptone ist ihr Label. „Soul Time!“ heißt das neue Album, das dieser Tage erscheint, es ist das Album zum zehnten Geburtstag von Daptone und zeigt in aller Pracht auf, was diese Sängerin und ihre Band so draufhaben und was man unter Daptone verstehen muss. Wenn man das „retro“ nennen will, bitte. Es ist aber vor allem zeitlos gültige Musik. Soul. Charles Bradley kann man im November sogar wieder live sehen, dann ist er in Deutschland auf Tour.

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