Susan Albers schwebt auf die Bühne, im weißen Kleid sitzt sie auf einer Schaukel, die Augen sind sehr oft und lange geschlossen – das soll wohl Inbrunst und Verträumtheit darstellen – und man kommt nicht umhin, die Tonnen von Make-up auf dem Gesicht der Kandidatin wahrzunehmen. „Komm zu mir in der Nacht, wir halten uns umschlungen, bis der Tag erwacht“, singt sie. Es ist die sechste Mottoshow und Dieter Bohlen vermerkt, dass dies wohl das einzige Stück in seiner ganzen „Deutschland sucht den Superstar“-Zeit wäre, das er nicht kennen würde. Puh, das war knapp. Und man würde nur zu gern wissen, ob es Jochen Distelmeyer auch nur interessiert, wofür sein Song hier herhalten muss.
„Ich will mich ja gar nicht wirklich unterscheiden! Ich will mich nicht von Leuten wie Michael Jackson unterscheiden. Aber auch nicht von Mark E. Smith. Und selbst von dem nicht, was man doof findet: Modern Talking, beispielsweise. Die sitzen alle da – Dieter Bohlen, Moses P., Kim Gordon, Steve Malkmus – und glauben, dass sie eine gewisse Leidenschaft für Musik haben, dass es das ist, was sie machen wollen und das einzige, was sie können.“ Zu gern würde man heute das Interview von damals, 1999, noch einmal führen. Blumfelds „Old Nobody“ war gerade erschienen und „Tausend Tränen tief“ war der für viele buchstäblich verstörende große Pop-Gegenentwurf zum Indierock damaliger Prägung. Blumfeld selbst präsentierten sich auf dem Cover als sauber frisierte Schwiegersöhneband, im Video zu „Tausend Tränen tief“ agierte ein noch makellos stilvoller Helmut Berger. Anzugpflicht.
Vierzehn Jahre später ist Helmut Berger ein Wrack mit Dschungelcamp-Erfahrung und auf den Bühnen der angesagten Indieclubs steht Dagobert: „Du bist viel zu schön um auszusterben, lass unsere Kinder deine Schönheit erben. … Ich will ein Kind von dir.“ Davor strahlen – besser: schwelgen – junge Menschen in den heute Indieclub-üblichen Klamotten und Dagobert braucht nur ein drastisch verschlissenes orangenes Sakko und Ledergamaschen, um immer noch deutlich besser auszusehen als die allermeisten von ihnen.
Dagobert trinkt Aperol Spritz und macht Schlager. Dass er das irgendwie ironisch meinen könnte, glaubt man nicht mehr so recht, nachdem man ihn gesehen hat. Die Mühe, darüber nachzudenken, macht man sich ohnehin nur, weil er eben auf diesen Bühnen steht und weil er der neueste Künstler bei Buback ist, dem renommierten und standhaften Hamburger Independent-Label, bei dem auch F.S.K. oder Die Goldenen Zitronen veröffentlichen. Ist das die vermaledeite Sache mit der Ironie, die sich nur durch ihre eigene Abwesenheit konstituiert? Oder sind die Zeiten inzwischen einfach wirklich so „post“-alles, dass man auch schlicht „doof“ sagen kann?
Schlager hat seinen muffigen Gestank endgültig verloren, scheint es. Er ist für Mehrheiten quer durch die Musiksozialisationen wieder salonfähig geworden. Die Siegerin der diesjährigen DSDS-Staffel – Susan Albers ist es nicht geworden – ist eine blütenreine Schlagersängerin. Der letzte Echo Pop – „Deutschlands wichtigster Musikpreis“ nennt er sich selbst – wurde von Helene Fischer moderiert. Die lieferte soeben eine ausverkaufte Arena-Tour in Größenordnung amerikanischer Megastars und lässt sich – so wie die noch erfolgreichere Kollegin Andrea Berg – von Dieter Bohlen produzieren. Der wiederum ist immer dort, wo das Geld ist. Im Moment: beim Schlager. Eine siebenstellige Investitionssumme haben Kapitalgeber soeben für das News- und Community-Startup Schlager Planet locker gemacht. Schlager zählt zu den wenigen verbliebenen Hoffnungen für Umsätze in der Musikindustrie, Hand in Hand agiert er mit der „Volksmusik“, es gibt keine Grenze mehr in Sachen Publikum, Texte, gar Sound. Der bedient sich moderner Produktionsmittel und dient sich mit seinen durchgepeitschten Boller-Beats dem Ballermann-Après-Ski-Wahnsinn ebenso an wie der gemeinen Großraumdisco. Es gibt wieder – siehe Helene Fischer – vorzeigbare Stars außerhalb der aussterbenden Udo-Jürgens-Liga – und sogar einen „rebellischen“ Newcomer für die feuchten Träume nicht nur Heranwachsender hat man in petto. Andreas Gabalier heißt der fesche Steiermarker, aus dessen Lederhose stramme Waden ragen und der sein Album auch mal „Volks-Rock’n’Roller“ nennt.
Wie ein sogar nach Schlager-Maßstab absurd neben dem realen Trend liegender Treppenwitz mutet dagegen der öffentlich-rechtliche deutsche Beitrag zum „Eurovision Song Contest“ an, dem relevantesten Schlagerwettbewerb überhaupt. Der wurde vor Jahren schon vorm Abnippeln bewahrt von einer neuen Generation vermeintlich ironisch agierender „Kultfans“, die das musikalische Elend für die ARD-Zuschauer in die Neuzeit gerettet haben. Mit Cascada, dem abgehalfterten Eurodance-Verschnitt mit der abgekupferten Vorjahressiegernummer, wird man allerdings kaum was reißen können, nicht mal unter den normalen ästhetischen Mangelbedingungen beim ESC. Und falls doch: umso schlimmer.
Dagobert ist von all dem weit entfernt, auch außerhalb gängiger Erfolgskriterien. Wie man das auch gut machen kann mit den großgestigen Gefühlen und den Fress-dich-Reimen, hat Jochen Distelmeyer schon vor anderthalb Jahrzehnten gezeigt. Hoffnungslos altmodisch wirkt Dagobert aber mit seinen Billigsounds, den schlimmen Arrangements, seiner dürftigen Stimme, dem iPod auf der Bühne und seinen „Und jetzt ihr alle!“-Anfeuerungen. Trotzdem sind die Leute angetan. Man will das, ehrlich gesagt, gar nicht genauer verstehen. Immerhin gibt es auch dafür einen Song von Distelmeyer: Wohin mit dem Hass?
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