Triumph des Willens

Ton & Text Vor 35 Jahren veröffentlichten die Sex Pistols „Never Mind The Bollocks“. Das Album gilt als Punk-Schlüsselwerk und Lehrstück über das Geschäftsmodell mit der Provokation
Auf die guten alten Zeiten: John Lydon auf dem Isle of Wight Festival 2008 in Newport
Auf die guten alten Zeiten: John Lydon auf dem Isle of Wight Festival 2008 in Newport

Foto: Matt Cardy / Getty Images

Als es vorbei ist und alle von Bord gehen müssen, grinst John Lydon alias "Johnny Rotten" aufreizend triumphierend in die Kamera. Er merkt wohl, dass dieses eigentlich unspektakuläre Ende einer Bootsfahrt auf der Themse ein ziemlich großer Baustein in der eigenen Legende sein wird. Dabei will er gar nicht gewusst haben, dass in dieser Woche des 7. Juni 1977 Thronjubiläum gefeiert wird. Aber es gab eine Menge Polizei, es wurden Leute verhaftet, jemand musste sich verdammt angepisst fühlen. 1.500 Pfund soll sie gekostet haben, diese Promotion-Aktion für „God Save The Queen“, die soeben erschienene Single der Sex Pistols, die natürlich eine Provokation des britischen Establishments war. Eine so große, dass sie nicht auf Nummer eins der Charts gehen durfte – auch das gehört zum Legenden-Kosmos der Sex Pistols, deren Geschichte heute immer noch zum Spannendsten und Lehrreichsten der Popmusik gehört.

Vor 35 Jahren, im Oktober 1977, erschien „Never Mind The Bollocks, Here’s The Sex Pistols“, das erste und letzte Album der Sex Pistols. Es ist herausragender Bestandteil der Ikonografie der Popgeschichte, unzählige Male aufgegriffen, zitiert, kopiert. Und trotzdem nur noch der finale Nachklapp einer Band, die künstlerisch nichts mehr hinzuzufügen hatte. Im Jahr darauf löste sie sich auf, kurz danach machte der Tod von Sid Vicious die Legende perfekt. Jener Sid Vicious, der erst im Februar in die Band gekommen war und bekanntermaßen keinen Bass spielen konnte. Aber er konnte perfekt die Lippen schürzen, trug Stachelhaare, Lederjacke und Nietengürtel; er war das perfekte Punk Role Model, das Manager Malcolm McLaren für diese Band so gern haben wollte. Wen juckte es schon, dass er im Studio zu nichts taugte, dass sein Vorgänger Glen Matlock der eigentliche Songschreiber war, dass mit Sid Vicious das Unternehmen Sex Pistols gänzlich unbeherrschbar wurde?

„We come from chaos, you can not change us“ singt John Lydon noch 2012 auf dem neuen Album seiner Band Public Image Ltd. Es ist eines der Projekte, die nach der eigentlich sehr kurzen Punk-Explosion in England wie Pilze aus dem Boden schossen. Jeder hatte gesehen, dass der reine Wille, Rockstar zu werden, triumphieren konnte. Derjenige, der das am konsequentesten ausgelebt hatte, war zwar tot und stilistisch war das Konzept „Punk“ sowieso ausgereizt – aber es war eine Initialzündung, die den amerikanischen Punkrockern so nie gelang, gerade, weil sie dann doch nicht so dreist waren, wie diese Londoner mit ihrem Manager, der aus Provokation ein gut laufendes Geschäftsmodell machte und dem bis dato zum großen Erfolg nur noch die perfekte Versuchsanordnung fehlte. Eben die Sex Pistols.

Das Gesamtkunstwerk zählt

Die waren nicht die ersten, die schon gar nicht die innovativsten, sicher auch nicht die besten unter all den jungen Wilden, die Mitte der Siebziger die Nase voll hatten vom Bombastrock mit seinen riesigen Keyboardfestungen und Schlagzeugburgen auf den Stadion-Bühnen. Von einer Musikszene, die innerhalb von nicht mal zehn Jahren völlig vergessen zu haben schien, dass Rock’n’Roll auch mal Rebellion bedeutete. Davon, dass man nicht genügend Gelegenheit hatte, zehn Jahre Gitarre zu üben, wenn man noch in der Schule ist. Aber die Sex Pistols hatten eben mehr Glück, waren das Stück konsequenter und vor allem bedenkenloser. Und sie waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um den Nerv so sehr zu treffen, dass er immer noch nachschwingt.

Nur wenig Faszination haben ein „Anarchy In The U.K.“ oder „God Save The Queen“ bis heute verloren, selbst man natürlich inzwischen die ganze Geschichte zu kenne glaubt, oder wenn der Abstand auch hilft, die Füller auf dem eh schon nicht langen Album noch eindeutiger herauszuspüren. Der Schwerpunkt des Interesses hat sich damit aber verlagert. Nicht mehr die Musik an sich ist es, die am meisten fasziniert, sondern das Betrachten der Sex Pistols als Gesamtkunstwerk, als Weltkulturgut, das sich so wundervoll im „History“-Kontext darstellen lässt. Nicht umsonst ist das zentrale Moment der zum Jubiläum fälligen Deluxe-Neuauflage weniger die eigentliche Musik. Auch die gibt es natürlich, von den passenderweise gerade wieder aufgefundenen Studiobändern remastert – so, als ob jemanden wirklich interessieren würde, wie eine aufgemöbelte Version klingt – und ergänzt durch die üblichen Livemitschnitten, Demos und den paar vorhandenen Original-Videoaufnahmen.

Kaum etwas davon dürfte dem interessierten Fan komplett ungeläufig sein oder ihn gar überraschen. Vor allem interessant ist die hundertseitige Sex-Pistols-Chronologie des Jahres 1977, vollgestopft mit Original-Kommentaren der Beteiligten, mit Faksimiles und noch nicht gänzlich totgezeigten Bildern. Eine durchweg spannende Chronik der entscheidenden Tage einer Band, in denen sich sogar das letztendlich ablesbare Scheitern als Triumph darstellt.

Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit motor.de entstanden.

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