Viel hilft viel

Ton & Text Das zehnte Reeperbahn Festival feiert mit Mammutprogramm sich selbst, das wiederentdeckte Selbstbewusstsein der Musikbranche und natürlich die Rockcity Hamburg an sich

In Hamburg, so scheint es zumindest, geht man alles ein bisschen entspannter an. Und auch konsequenter. Wenn da nachmittags um vier eine Band auf dem Balkon einer Seitenstraße so laut spielt, dass die Leute von der Reeperbahn herüberströmen und den Verkehr lahmlegen, ist das so illegal, wie Punkrock halt noch sein kann. Dann kommt – die Davidwache liegt praktisch gegenüber – natürlich die Polizei und sperrt freundlicherweise die Autos aus. Da staunt der Besucher aus der Provinz und Hamburg bekommt noch einen Bonuspunkt auf der nach oben gar nicht so offenen Coolness-Skala der deutschen Metropolen. Aber so richtig wundern muss es einen eigentlich nicht. In seinem zehnten Jahr hat das Reeperbahn Festival so etwas wie Narrenfreiheit, wird von ihm ein bisschen störrische Underground-Folklore geradezu erwartet. Ohnehin ist Popmusik in Hamburg hochoffiziöses Anliegen. Das beweist nicht zuletzt das gerade noch pünktlich eröffnete Klubhaus St. Pauli, ein geschniegelter Neubau ausschließlich für Musik und Theater mitten auf dem Spielbudenplatz, dessen Monitor-Fassade sogar im Neon-Overkill der Reeperbahn noch heraussticht.

Mit dem Reeperbahn Festival leistet sich Hamburg ein zweifelsfrei ganz besonderes Aushängeschild, bei dessen Mammutprogramm zumindest aus Außensicht alles verblüffend reibungslos abläuft. Nahezu jeder der wirklich vielen relevanten Clubs zieht mit, die Leute strömen in die Läden und machen jedes Konzert zum Erfolg für vergleichsweise noch unbekannte Bands oder zum Triumphzug für die aktuellen Hypes. Hier ist die Popmusikwelt noch – oder besser: wieder – in Ordnung. Es wird gelärmt, gedrängelt, geschwitzt, gequatscht, getanzt und natürlich ordentlich gesoffen. Das hat die Musikbranche seit den Hohetagen der Kölner Popkomm in den Neunzigern vor der „Krise der Musikindustrie“ ganz offensichtlich vermisst. Hier schließt man nahtlos an die gute alte Tradition an, nur halt unter noch weiter enthemmten Reeperbahn-Bedingungen. Und inzwischen kommen wirklich alle. Jedenfalls alle, die noch übrig geblieben und alle, die neu hinzugekommen sind in der Popmusikbranche.

Deren Paradigmenwechsel ist nicht zu übersehen. Nicht mehr Labels dominieren die Veranstaltungen, sondern Exportbüros. Nur die haben noch das Geld, um sich eine repräsentative und sauteure Teilnahme an einem Branchenfestival überhaupt leisten zu können. Vor allem sie sind es, die den ganzen Zirkus heutzutage am Laufen halten und einen Großteil des Liveprogramms mit den Bands füllen, die sie für besonders satisfaktionsfähig auf deutschen und europäischen Bühnen halten. Das ist sozusagen der Deal des Reeperbahn Festivals mit der Musikbranche. Nirgendwo sonst in Deutschland lässt sich in drei Tagen effektiver Content vermitteln, lassen sich einfacher Leute treffen. 3.700 Fachbesucher haben sich angemeldet, weit über 30.000 Besucher zählen die Veranstalter.

Das trägt zur deutlich aufgehellten Stimmung bei. Selbst in den oft auf Zweifel gebürsteten Panels der Branche – auch die bestens besucht – mögen die Diskutanten mit der jahrelang gehegten Skepsis nicht mehr viel zu tun haben. Alles gar nicht so schlimm, Blick nach vorn, lieber auf das Positive konzentrieren. Das ist der Konsens in Sachen Live-Blase, Digitalisierungsumbruch oder rückgewonnener Majorlabel-Dominanz. Sogar die Zahlen stimmen zuversichtlich, die Musikbranche ist wieder wer. Das zumindest sagt die ebenfalls in Hamburg vorgestellte „Studie zur Musikwirtschaft“ in Deutschland, die ihr eine „direkte Bruttowertschöpfung“ von 3,9 Milliarden Euro und knapp 130.000 Erwerbstätige bescheinigt. Mehr als Filmwirtschaft, Radioveranstalter oder Buch- und Zeitschriftenverlage seien das. Außerdem induziere „Musiktourismus“ 5 Milliarden Euro jährlich. Hamburg sei dabei der absolute Primus, 2,3 Millionen Konzertreisen gingen allein auf das Konto der Hansestadt, fast so viel wie die Nächstplatzierten Berlin, München, Stuttgart und Dresden zusammen. Das wundert hier selbstredend niemanden, darauf nimmt man einen Gin Tonic – Länderschwerpunkt Finnland hat dankenswerterweise seine Edel-Gin-Marke im Schlepptau – oder ein Astra. Ist ja schließlich Hamburg, wo die geschmacklich eher unterklassige „Knolle“ zum zünftigen Erlebnis einfach dazugehört.

Also alles gut? Nun ja. Auch die von allen Seiten ausgiebig befeierte Kooperation mit dem dafür ausgerechnet aus der Konkurrenzmetropole Berlin weggelockten VUT, dem Dachverband der deutschen Independent-Labels, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich gerade die kleinen bis mittleren Labels eine Teilhabe im offiziellen Programm kaum leisten können und deshalb in Off-Aktivitäten ausweichen. Die gute Stimmung auf den Diskussionspodien rührt auch daher, dass schlicht niemand dabei sitzt, der einfach mal „dagegen“ ist. Subversivität ist nicht angesagt. Und selbst die knallvollen „Indie Awards“ des VUT warten nach nur drei Jahren Existenz mit etlichen Preisträgern auf, die man so eigentlich nicht für ihr doch eher mäßiges Schaffen belobigen wollte.

Nichtsdestotrotz, das Reeperbahn Festival ist ein Erfolgsmodell, hat im Großdenken alles richtig gemacht und man muss ihm und Hamburg zu Gute halten, dass man hier deutlich mehr Geld als alle anderen deutschen Musikmetropolen deutlich besser ausgibt. Das kann man zum Jubiläum durchaus auch mal feiern. Und dann erst darüber nachdenken, ob es nach zehn Jahren Wachstum vielleicht auch mal wieder abwärts gehen könnte. Popmusik-Erfolg ist schließlich prinzipiell zyklisch. Keiner weiß das besser als die Branche selbst.

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