Am Ende landet es natürlich immer beim „Kultur- und Bildungsauftrag“. Der ist verpflichtend für alle deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter. Und deren Radiosender, die mehr oder weniger ungebrochen schon immer in der Kritik stehen, eben diesen nicht zu erfüllen. Vor allem, wenn es um Popmusik geht.
Die Sachlage ist jedem vertraut, der – sagen wir mal – Musikinteressen jenseits von Helene Fischer oder Andreas Bourani hegt. Gerade die massenkompatibler gestalteten Wellen, die sich explizit über ihre Musikfarbe definieren, sind zumindest über längere Zeit nur sehr schwer erträglich. Vernünftige Popmusik findet im Radio viel zu wenig statt. Wer nicht gerade in Berlin und Umland wohnt, wo man auch auf UKW akzeptable Vielfalt vorfinden kann, oder in den südlichen Randlagen das österreichische FM4 zu empfangen vermag, dem bleiben eigentlich nur noch die so genannten „Kultursender“, wo Popmusik zwar nicht in epischer Breite aber wenigstens mit einem gewissen Grad an Ernsthaftigkeit betrieben wird. Natürlich gibt es per Internetradio und Streamingdiensten unzählige Alternativen – aber das macht den täglichen Airplay-Kohl nicht wirklich fett und ist außerhalb echter Musikjunkies auch keine im Höralltag sonderlich praktikable Lösung für Mehrheiten. Gerade Jugendliche lernen neue Musik – entgegen der landläufigen Meinung – vorwiegend immer noch per klassischem Radio kennen. Was sie dort hören, stammt in der Regel von Major-Plattenfirmen.
Gerade mal drei von den 100 der im Jahr 2014 am meisten gespielten Songs im deutschen Radio stammen von einem „unabhängigen Musikunternehmen“. Das sind die so genannten „Independent-Labels“, jene, die eben nicht zu den drei verbliebenen internationalen Musikkonzernen gehören, die zwei Drittel des Geschäfts mit Musik ausmachen. Aber nicht mal das übrige Drittel spiegelt sich im Radio angemessen wieder – sehr zum Unmut des Verbands unabhängiger Tonträgerunternehmen: „Der Kulturauftrag sollte endlich erfüllt und musikalische Vielfalt präsentiert werden.“ Der VUT ist der angestammte Dachverband der deutschen Independents und nicht unumstritten. Gerade in Urheberrechtsfragen fährt er gern die gleiche unnachgiebige Linie wie die Kollegen vom Bundesverband der Musikindustrie, dem Komplementärverband der Majors, dessen Chef Dieter Gorny jetzt sogar ganz offiziell Politik machen darf; ausgerechnet als Beauftragter für Kreativwirtschaft in Sigmar Gabriels Wirtschaftsministerium, was überall außerhalb der Musikindustrie für eine Mischung aus ungläubigem Staunen und hellem Entsetzen gesorgt hat.
Der VUT jedenfalls ist eine Lobby-Organisation und auch die Indies an sich sind nicht gerade durchweg „die Guten“ in Sachen Repertoire, Bedingungen für Künstler oder eben politisches Umfeld. Unrecht hat er deswegen aber nicht, auch wenn der aktuelle Vorstoß in Sachen Radio weniger der selbstredend auch angeführten Bedenken wegen des Mangels an „kultureller Vielfalt“ entspringen dürfte, als der Sorge um die Geschäfte seiner Mitglieder. Denn die Unterrepräsentation im Radio hat tatsächlich schwerwiegende Folgen. Da sind zum einen die direkten Einnahmeverluste aus den fälligen Gebühren für GEMA und GVL. Deren Priorität hat mit dem drastischen Rückgang der Tonträger-Verkäufe in den letzten Jahren permanent zugenommen. Radio-Airplay ist vor allem aber auch ein Katalysator für alle anderen Umsätze, macht die Künstler bekannter, sorgt für mehr Verkäufe und Streams und – eigentlich noch wichtiger – erhöht ihren Marktwert im Livegeschäft. Auch das Qualitätskriterium ist perspektivisch relevant: Hörer, die im Radio nie musikalische Vielfalt und Qualität erleben, sind als nachwachsende Zielgruppe für bezahlten Musikkonsum prinzipiell weniger tauglich. Das trifft Independents deutlich härter als Majors.
Die waren mit Beginn des Digitalmusik-Zeitalters und einer unendlich scheinenden Serie von katastrophalen Fehlentscheidungen praktisch schon abgeschrieben, den flexibler agierenden Independents schien die Zukunft zu gehören. Inzwischen hat sich die Industrie aber wieder halbwegs konsolidiert. Sie ist der Hauptprofiteur des umstrittenen aber boomenden Streaming-Geschäfts, bestimmt die politische Agenda über das Urheberrecht und hat auch im Alltags-Geschäft wieder Oberhand bekommen. Denn nur die Majors haben die Etats, die es braucht, einen hoffnungsvollen Künstler auch wirklich soweit zu pushen, dass er eine Dauerpräsenz erreicht, die wiederum alle anderen Erfolgseffekte auslöst. Ausnahmen wie der phänomenale Erfolg von Adele vor ein paar Jahren können die Gesamtbilanz kaum beeindrucken. Hinzu kommt der immer stärker zu spürende Revival-Trend, bei dem die musikhistorisch starken Backkataloge der Majors zum Zuge kommen oder der kleine aber geschäftlich nicht zu verachtende Vinyl-Hype, bei dem die massiven Major-Auflagen kleinere Konkurrenten nicht nur vom Markt, sondern sogar aus der permanent am Limit arbeitenden Produktionskette drängen. Dazu passt, dass der ursprünglich als Indie-Institution gehandelte Record Store Day – am 18. April ist es wieder soweit – inzwischen praktisch komplett von den künstlerisch irrelevanten Re-Issues der Majors überschwemmt wurde.
Der Alarmruf des VUT ist also durchaus berechtigt, mehr Präsenz von Independents gerade im öffentlich-rechtlichen Radio dringend geboten. Nur: Wie soll das funktionieren? Und: Juckt solch ein Appell irgendjemanden in den Radio-Gremien? Letzteres scheint unwahrscheinlich. Warum sollte sich dort plötzlich irgendetwas im grundlegenden Nicht-Verständnis von Musik ändern? Die Politik aller großen öffentlich-rechtlichen Sender hat immer wieder gezeigt, dass im Zweifelsfall immer der Mainstream siegt, dass selbst als erfolgreich angesehene Experimente mit musikalischer (und sonstiger inhaltlicher) Vielfalt zu Gunsten von „Quote“ wieder eingestampft oder in die Nachtstunden verdrängt wurden. Die Personalpolitik der Sender sorgt regelmäßig dafür, dass zuständigen Musikredakteuren die Hände gebunden sind – selbst wenn sie kompetent wären, was keinesfalls als gegeben angesehen werden darf. Die Radiopromoter der Plattenfirmen können davon ein Lied singen; alles, was nicht in ewig eingeschliffene musikalische und Namens-Raster passt, hat von vornherein extrem reduzierte Chancen auf Einsatz. Schlicht illusorisch mutet unter solchen Bedingungen der Vorschlag des VUT an, „Besprechungen von neuen Alben oder Formaten, die sich einer bestimmten Musikrichtung widmen, (sollten) nicht in den späten Abendstunden oder gar nachts laufen, sondern zur Primetime“. Aber ein großes Danke! für den Versuch. Falls der Erfolg hat, hat der VUT bei uns allen etwas gut.
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