Handke und Kurt Gödel

Vorabdruck Eine Literaturgeschichte der verpassten Gelegenheit: die Gruppe 47 in Princeton
Ausgabe 07/2016

„Pop! It’s what’s happening in art, fashion, entertainment, business“, verkündete das Newsweek Magazine mit einem grellen Cover in explodierenden Buchstaben wie aus einem Comic-Strip, und das hätte den Schriftstellern doch eigentlich eine Mahnung sein können. Die deutschen Gäste aber konzentrierten sich auf sich selbst und ihr Mitgebrachtes, die Literatur. Sich für Pop und Tagespolitik zu interessieren, hätte bedeutet, die Türen zu öffnen, aber die mussten bei einer Tagung der Gruppe 47 definitionsgemäß geschlossen werden. Denn nur hinter geschlossenen Türen blieb Literatur ein geschlossenes System, relevant, konkurrenzlos, bedeutungshaft. Der massenzugängliche Pop zielte eben auf diese Geschlossenheit, und deshalb ist eine Lesung eben kein Popkonzert und eine Tagung der Gruppe 47 kein Festival. Allenfalls morgens beim Frühstück im Motel wurden Tageszeitungen durchgeblättert, doch dann fuhren schon die Busse vor.

Im Gänsemarsch trabten die Herren in ihren grauen Anzügen hinaus – wo waren bloß die Frauen? –, die Mäntel locker über den Arm gelegt, die Hände in den Hosentaschen, Krawatten flatterten, dunkle Brillen wurden zurechtgerückt, und ihre Blicke richteten sich auf das riesenhafte Schild, mit dem das „Holiday Inn of Amerika“ an der Interstate auf sich aufmerksam machte, und wo, als handle es sich um ein Kinoprogramm, in großen Lettern geschrieben stand: „Welcome Gruppe 47“. Nicht nur die Schilder waren größer in den USA, sondern auch die Gesten. Vielleicht wurden die deutschen Gäste dadurch sogar ein bisschen eingeschüchtert und gingen deshalb so schweigsam zu den Bussen, dunkel umrissene Gestalten wie Scherenschnitte. Auch Deutscher zu sein wurde größer und schwerer in Amerika, sie hatten zu tragen daran. Nur Jens redete gestikulierend auf den freundlichen Lenz ein. Höllerers sauber gescheitelte Colloquiumsjugend, die Berliner Delius, Stiller und Buch versuchten, ein paar Worte zu erhaschen, und Peter Handke mit seiner albernen Schirmmütze hielt sich wie immer weit hinten, da hatte er im Blick, dass vor ihm wieder nichts geschah. (…)

Vielleicht begegnete den Schriftstellern auf dem Campus ein ausgezehrter älterer Herr mit dicker Brille, falls er sich an diesem Tag, in Schal und Wintermantel gehüllt, aus dem Haus gewagt hätte, obwohl er überall die lauernde Ansteckungsgefahr tödlicher Viren fürchtete. Kurt Gödel ging nur selten aus. Weil er fürchtete, vergiftet zu werden, aß er nichts als das, was seine Frau gekocht und vorgekostet hatte. Gödel, der größte Logiker des Jahrhunderts, war in den fünfziger Jahren noch mit Albert Einstein hier in Princeton spazieren gegangen. Einstein hatte behauptet, überhaupt nur deshalb das Institut zu besuchen, um nachmittags mit Gödel nach Hause gehen können. Zwei Jahrhundertgenies im Gespräch. Gödel war der Einzige gewesen, der Einstein verstand und ihm auf dessen Niveau begegnete, ja ihn gewissermaßen überbot, indem er die Zeit nicht bloß relativierte, sondern gleich ganz abschaffte. Einsteins gesunder Appetit und Optimismus bildeten ein natürliches Gegengewicht zum Verfolgungswahn Gödels, der sich in besonders krisenhaften Momenten angstdurchschüttelt im Heizungskeller versteckte. Einstein war Gödels letzter Freund, nach Einsteins Tod zog er sich immer weiter zurück.

Die Lehrerlaubnis verloren

Was wäre gewesen, wenn sich auch nur einer der deutschen Schriftsteller für Gödel interessiert und den Kontakt mit ihm gesucht hätte? Gödel, der, obwohl kein Jude, seine Lehrerlaubnis verloren hatte, weil die Nazis offenbar der Ansicht waren, dass ein Mensch mit außerordentlicher Intelligenz Jude sein müsse. Gödel, der gedankenversunken genug gewesen war, um die Gefahr, in der er sich befand, gar nicht zu bemerken, der, längst im amerikanischen Exil gelandet, noch einmal nach Wien zurückkehrte und hinterher, nur mit Glück noch einmal entkommen, über den Alltag unter der Naziherrschaft nichts anderes zu sagen wusste als: Der Kaffee ist erbärmlich! Was wäre gewesen, wenn dieser naive Paranoiker, der an Gespenster glaubte und zugleich das Universum auf seine Wahrscheinlichkeiten hin durchgerechnet hatte, der Literatur begegnet wäre, wenn die Gruppe ihn gar eingeladen hätte? Vielleicht hätte man sich etwas zu sagen gehabt, denn die Zeitreisen, deren Möglichkeit Gödel logisch bewiesen hatte, sind in der Literatur eine Selbstverständlichkeit. Gödel hielt jede Vergangenheit und jede Zukunft für erreichbar und wusste zudem, wie viel Energie nötig wäre, um dorthin zu gelangen. Der gekrümmte und gestreckte Kosmos verwandelte sich in seinen Berechnungen in ein Karussell, auf dem man mit dem richtigen Equipment durch die Epochen reisen konnte, was allerdings die Frage aufwarf, ob eine Zeit, in der Zukunft und Vergangenheit gewissermaßen räumlich zu denken wären und als jederzeit erreichbare Orte immer und ewig existierten, ob diese Zeit überhaupt noch zeitlich zu fassen wäre, oder ob sie aufgehört hätte, Zeit zu sein, beziehungsweise nie gewesen wäre, beziehungsweise nur in der beschränken Vorstellung des Menschen. Doch wenn es keine Zeit mehr gab – was sollte dann eine Zeitreise sein?

In der Literatur sind derartige Phänomene einfacher zu begreifen. Als Raumschiff dient die Fantasie, und Zeit bleibt Zeit. Die Vergangenheit ist für die künstlerische Vorstellungskraft ein offener Raum, in dem Geschichte im Erzählen entsteht. Ohne Geschichten und ohne Erinnerung gibt es keine Geschichte und also auch keine Vergangenheit. Ohne Literatur wäre das Weltall leer. Literatur schafft die Orte, in denen sie handelt, denn was denkbar ist, ist möglich, und alles Mögliche ist auch wirklich, meinte Gödel. Deshalb war seine Angst davor, vergiftet zu werden, durchaus begründet, denn auch das war ja immerhin möglich. So wie es möglich ist, fünfzig Jahre nach Princeton nach Princeton zurückzukehren, und so wie Grass seine Erzählung über das Treffen der Barockdichter in Telgte dreizehn Jahre später mit den Sätzen beginnen lässt: „Gestern wird sein, was morgen gewesen ist. Unsere Geschichten von heute müssen sich nicht jetzt zugetragen haben. Diese fing vor mehr als dreihundert Jahren an. Andere Geschichten auch. So lang rührt jede Geschichte her, die in Deutschland handelt.“

Gödel hätte in der Literatur ein Universum entdecken können, in dem einander widerstreitende Wahrheiten möglich sind, nebeneinander, ohne sich gegenseitig zu dementieren. Diese Offenheit ist ja das Schöne an der Literatur. Gödels Unvollständigkeitssatz hätte umgekehrt den Schriftstellern ein Trost sein können. Gödel hatte bewiesen, dass es auch in hermetischen Systemen, selbst in der Logik und in der Mathematik, Aussagen gibt, die nicht beweisbar und nicht widerlegbar sind, dass also alles, auch die Logik, zunächst auf Annahmen, ja auf Glauben gründet. Damit rückte die Welt der Beweisbarkeiten und die Welt der Erzählungen näher zusammen. Logik und Literatur waren Systeme, die auf unterschiedliche Weise auf Unbeweisbarkeiten beruhten.

Wie blinde Gestirne

Es ist jedoch nicht überliefert, ob die Schriftsteller überhaupt wussten, dass Gödel existierte und dass er hier existierte und dass er womöglich gerade eben draußen vor der Whig Hall vorbeispazierte. Fragezeichendünn und krumm wie er war, ließ er sich leicht übersehen, und vermutlich war er ebenso sehr in seine Gedanken vertieft, wie die Schriftsteller der Gruppe 47 in ihre Tagung vertieft waren und nichts registrierten als ihre Lesungen und sich selbst. Ihr Autismus glich durchaus dem des Logikers, und also war es wahrscheinlicher, den entferntesten Punkt des Universums oder der Zeit zu bereisen, als dass Gödel und die Gruppe 47 sich begegnet wären. Wie blinde Gestirne, die einer Kollision nur knapp entgehen, rasten sie dicht aneinander vorbei. Außerdem bevorzugte Gödel Bücher von Walt Disney und hatte von der Gruppe 47 noch nie gehört. Und so ging auch die zufällig zeitgleich auf dem Campus stattfindende Tagung zum Thema „What’s happening: The Arts 1966“ an den deutschen Schriftstellern vorbei, wo sie immerhin den Architekten Peter Eisenman, den Avantgarde-Filmregisseur Gregory Markopoulos, Allen Ginsberg und Tom Wolfe hätten kennenlernen können. Nur Grass setzte sich nach dem langen Lesetag in der Whig Hall noch dort aufs Podium, um über „The Style of the Sixties“ zu diskutieren, eine höfliche Geste, mehr nicht.

Info

Dieser Text ist ein Auszug aus Jörg Magenaus neuem Buch Princeton 66: Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47, das am 20. Februar erscheint (Klett-Cotta, 223 S., 19,95 €)

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden