„Statt etwas oder Der letzte Rank“ von Martin Walser: Unfassbar

Bilanz In seinem Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“ lässt Martin Walser allen Ballast hinter sich
Ausgabe 01/2017
„Ich wollte nichts mehr wissen, nur noch sein“: Walser
„Ich wollte nichts mehr wissen, nur noch sein“: Walser

Foto: Mads Nissen/Laif

Um dieses Buch zu besprechen (oder auch zu rühmen), müsste man eine neue Sprache erfinden. Mit der üblichen Rezensionsroutine ist es nicht zu fassen. „Rühmen“, zum Beispiel, ist schon falsch. So ein zum Schweigen tendierendes Schreiben will nicht gerühmt, sondern einfach bloß wahrgenommen sein, damit es sich im Lesen ereignen und Satz für Satz vollbringen kann. Aber wie liest man ein Buch, dessen Autor bedauert, dass er immer noch Sätze braucht? „Erstrebenswert wäre gewesen: Satzlosigkeit. Ein Schweigen, von dem nicht mehr die Rede sein müsste.“ Wie das geht – in der Sprache zu Hause zu sein und zugleich über sie hinauszugelangen –, davon handelt Statt etwas oder Der letzte Rank. Sprechend ins Schweigen verfallen: ein Paradox.

Es ist nicht unbedingt die Summe eines Lebens, aber ein Zielpunkt alles wirklichen Schreibens. Martin Walser hat alles Handlungshafte hinter sich gelassen. Seit mehr als 60 Jahren hat er Anlauf genommen, um dahin zu gelangen. Kritiker – und zwar die Gegner und Feinde unter ihnen, und auch um diesen feinen Unterschied geht es im neuen Buch – haben ihm unterwegs immer wieder vorgeworfen, er könne gar keine Romane schreiben.

Das schlechte Gewissen

Tatsächlich lässt sich selten eine „Geschichte“ im konventionellen Sinn herauspräparieren, und man hatte bei Walser häufig den Eindruck, sie sei allenfalls die Fläche, die eben nötig ist, damit Sätze, Gedanken, Stimmungen entstehen. An solcher Ereignishaftigkeit aber waren seine Romane immer reich. In seinen letzten Büchern schlotterte die Romanform dann nur noch wie ein durchscheinendes Mäntelchen um den immer deutlicher werdenden Sprachkörper. Jetzt entstehen die Sätze pur. Sie wachsen aus sich heraus. Einer aus dem anderen. Walser kann jetzt sagen: „Ich wollte nichts mehr wissen, nur noch sein.“ Und das – nächstes Paradox – ist zugleich Erfüllung des Lebens wie auch Verabschiedung von der Welt. Man muss 90 Jahre alt werden, um so schreiben zu können.

Der Mann, der da spricht – ihn „Erzähler“ zu nennen wäre verkehrt, und „sprechen“ ist für seinen Monolog auch schon zu viel behauptet –, starrt eine „leere, musterlose Wand“ an. Das ist, wenn man so will, alles, was sich in diesem Buch ereignet, bis er am Ende die Wand tapezieren lässt, weil auf ihr eine Schrift erschienen ist. Nebukadnezar will er aber nicht sein, also zieht er eine Linienschraffur vor, bei deren Anblick er „eine Musik ohne Anfang und Ende“ hören kann. Das ist dann sogar noch mehr als selbst die reinste, aus nichts als einzelnen Wörtern und Sätzen bestehende Sprache.

Das Erstaunliche: Alle seine Themen sind auch in diesem Abstand nehmenden Buch vorhanden. Sie werden aber vom Geschichtlichen entschlackt und aufs Wesentliche reduziert. Also, worum geht es? Um das Gewissen, das immer ein schlechtes Gewissen ist (sonst ist es keins) und das Walser oder den, der da spricht, lebenslang begleitet. Um die Öffentlichkeit als Draußen-Welt und Draußen-Sprache, die mit ihren Ansprüchen und Urteilen dieses Ich unter Druck setzt. Das Ich kann auch zum „Du“ werden oder zum „Er“, je nach Bedarf, und es nimmt im Lauf des Buchs unterschiedliche Namen an. Es geht um das Geständnishafte, das immer dann auftritt, wenn es Sieger und Besiegte gibt für die Welt. Vor allem aber geht es immer wieder um Frauen (in unterschiedlichen Erscheinungsformen, also immer um diese oder jene konkret erscheinende Schönheit und darin zugleich um alle Frauen, die Frauheit schlechthin). Es geht um Erwartungen (denen nie entsprochen werden kann), um Sehnsucht (und um die Sehnsucht nach der Sehnsucht), um Schmerz (als Daseinssteigerung), um Glück und Unglück (was überraschenderweise dasselbe ist), um Einsamkeit und, darin und dadurch und darüber hinaus: um die Sprache selbst, ohne die nichts wäre, am wenigsten wir selbst.

Das Buch besteht aus 52 Kapiteln, so viele, wie ein Jahr Wochen hat. Die Zeit aber, dieses „Element der Ablenkung schlechthin“, gehört auch zu den Dingen, die zu überwinden wären, weil sie am Dasein, das sich doch immer im jetzigen Augenblick vollzieht, hindern. Keine Passage ist länger als 20 Seiten, die kürzesten bestehen nur aus einem oder zwei Sätzen, so wie diese: „Fühl dich so unwichtig, wie du bist. Wenn dir das gelingt, darfst du bersten vor Stolz.“ Andere Sätze: „Zu träumen genügt.“ „Ich hoffe mehr, als ich will.“ Oder: „Unfassbar sein, wie die Wolke, die schwebt.“ Auch der Ausgangspunkt, aus dem sich alles Weitere ergibt, ist so ein einzelner Satz: „Mir geht es ein bisschen zu gut.“ Mal ergeben sich daraus kleine Geschichten oder Szenen, mal handelt es sich um Träume, die deuten zu wollen auf Abwege führen würde, meist aber sind es Gedankenpassagen, die auf Wahrheit zielen, ohne sich dabei aber zu Gewissheiten zu verfestigen. Denn: „Wie soll es in einer Wörterwelt Freiheit geben, in der es Gewissheit gibt.“

Statt Philosophie

Wenn es heute noch eine Philosophie gäbe, die mehr wäre als das Kommentieren von Sekundärtexten, dann müsste sie so sein wie dieses Buch. Weil die Philosophie aber auf den Hund der bloßen Systematik und Analytik gekommen ist, bedarf es der Literatur, um zu denken. Walser setzt damit ein, dass er sich von den Theorien und ihrem „Verführungsfeuerwerk“ verabschiedet. Was er versucht, ist ein Denken, das aus der Empfindung kommt und Denken und Erleben nicht als Gegensatz, sondern als Einheit begreift. „Das ‚Ich denke‘ muss alle meine Vorstellungen begleiten können“, schrieb Kant. Walser knüpft daran an, auch wenn seine Gewährsleute mit Hölderlin und Nietzsche andere sind. Es zählt das Unterwegssein in der Sprache. Das ist immer ein Abenteuer mit offenem Ausgang. Das cartesische „Cogito ergo sum“ transformiert er Schritt für Schritt von „Ich huste“ oder „Ich leide“, bis zu „Ich suche, also bin ich“ und darüber hinaus. Auf „Ich bin unmöglich, also bin ich“ folgt im Umkehrschluss die ultimative Tautologie: „Ich bin, also bin ich.“ Dem lässt sich nichts mehr hinzufügen. Das ist der Punkt, wo die Sprache aufhört. Der letzte Rank. Nichts mehr wissen, nur noch sein. Mehr geht nicht.

Info

Statt etwas oder Der letzte Rank Martin Walser Rowohlt 2017, 172 S., 16,95 €

Jörg Magenau veröffentlichte 2008 bei Rowohlt Martin Walser. Eine Biographie

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