Erst hörte man seinen Schrei, dann fiel er wie ein Stein vom Himmel. Dem Russen Artur Khamidullin hatte der Wind in etwa sechs Metern Höhe die Beine seitlich weggedreht. Er landete hart auf dem Rücken, verlor beim Aufprall den Helm und das Bewusstsein und rutschte wie ein lebloser Sack den Hang hinunter. Günter Jauch glaubte, im Kopfhörer ein splitterndes Geräusch vernommen zu haben. Die Zeitlupe gab auch in der zehnten Wiederholung keine genaueren Aufschlüsse. Die Experten belehrten das Publikum, dass es besonders ungünstig sei, direkt "am Vorbau" der Schanze zu stürzen, weil man da die größte Höhe habe. Für Reporter Tom Bartels war es "der schwerste Sturz, den wir seit langem gesehen haben", doch das gehöre eben "zu den Risiken, die wir einkalkulieren müssen". Besonders wir Zuschauer, vermutlich. Der Wettbewerb wurde einstweilen fortgesetzt. Der Alt-Aktive Dieter Thoma verstand die Jury nicht mehr. Der nächste Springer landete wohlbehalten unten im Tal, war aber so entnervt, dass er sich kopfschüttelnd freiwillig in den Schnee legte: Morituri te salutant! Statt Cäsar war König Harald von Norwegen erschienen und grüßte aus seiner beheizten Loge.
Die Sportfunktionäre tragen die Verantwortung, die Springer das Risiko. Da aber jeder, der stürzt, selber schuld ist, und Artur Khamidullin eben "zu unerfahren" war, ist die Verantwortung relativ klein. Deshalb waren es die Springer, die am Samstag bei der Skiflug-WM in Vikersund in eine Art Streik traten. Die besten von ihnen, Andreas Widhölzl, Martin Schmitt und Stefan Horngacher zettelten den Boykott an, denn wären es nicht die Besten, stünden sie im Verdacht, bloß "Schisser", "Hasenfüße", feige Memmen zu sein. Bei diesen Windspitzen könne er für seine Sicherheit nicht garantieren, sagte Martin Schmitt, und dann müsse es nicht sein: "Nur über meine Leiche!" Die Jury wollte sich nicht erpressen lassen und erklärte die persönliche Meinung einiger Sportler für "unerheblich". Auch die Trainer sprachen von einer Überreaktion. Trotzdem wurde der Wettbewerb erst einmal ausgesetzt und nach vier Stunden vergeblichen Wartens auf abflauende Winde auf den nächsten Tag verschoben. Michael Uhrmann, der nicht zu den Besten gehört, zeigte sich den Vorkämpfern des Boykotts dankbar: "Wahrscheinlich hätt' ich mich schon überwunden, aber jetzt bin ich froh."
Auch Dieter Thoma war "richtig froh", dass seine aktive Zeit vorbei ist. Als er vor zehn Jahren in Vikersund Skiflug-Weltmeister wurde, reichten ihm noch Weiten von 165 und 172 Metern. Damit käme er heute, nach dem Umbau der Schanze, kaum unter die ersten zehn. Skifliegen ist, angespornt durch Quotendruck und Sponsorengelder, längst in einen Grenzbereich vorgestoßen. Die Abhängigkeit von Wind und Wetter nimmt mit dem Ausbau der Schanzen zu. Bei Sprungweiten von über 200 Metern, Flugzeiten von knapp zehn Sekunden und Spitzengeschwindigkeiten von 130 km/h kann jede Böe zum verhängnisvollen Fallwind werden. Bei den Besten steigt mit den Weiten auch das Risiko und vor allem das Kapital, das sie durch die Luft befördern. Martin Schmitt bekommt viel Geld dafür, dass er einen Milka-Helm aufsetzt, das Telegate-Logo vor seine Skibindung klebt, Bekleidung von S.Oliver trägt und auch mit dem Skihersteller Rossignol und dem Sender RTL Verträge abgeschlossen hat. Sie alle wollen ihn springen sehen, so weit wie möglich, haben aber auch ein Interesse an fortgesetzter körperlicher Unversehrtheit.
Was am Sonntag geschah, dass nämlich eine etwa fünfstündige Live-Übertragung zu keinerlei Ergebnissen führte, kann zum raschen Tod der Sportart führen. Sven Hannawald sprang zwar 214 Meter und jubelte glücklich, doch nach ihm stürzte der Finne Jani Soininen, der im Unterschied zu Khamidullin kein Anfänger ist. Ein Fehler in der Anlaufspur wurde ausgemacht, der Wettbewerb abgebrochen, obwohl nur noch vier Starter oben standen - Goldberger, Widhölzl, Ahonen und Schmitt. Der Neubeginn verzögerte sich. Diesmal war der Computer abgestürzt, und die Leibchen mit den Startnummern gerieten durcheinander. So verging das gute Wetter, und auch der nächste Durchgang musste unterbrochen werden, als nur noch vier Springer oben standen: Goldberger, Widhölzl, Ahonen und Schmitt. Das macht keiner gerne mit. Die vier packten ihre Sachen, die Jury wollte sich nicht erpressen lassen. Der österreichische Trainer sagte: "Ich schäme mich für den Sport", und auch der deutsche Reinhard Hess fand's allmählich "unzumutbar", während RTL in seiner Not sich in langwierigen Erörterungen über die Form von Skispitzen erging: Besser rund, eckig oder abgeflacht?
Am Montag dann wurde Sven Hannawald Weltmeister. Aber da guckte wahrscheinlich kein Schwein mehr zu. Artur Khamidullin geht es übrigens gut, alles halb so schlimm.
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