Zwei Drittel der Jugend weltweit hätten nicht die Basic Skills, die sie bräuchten, heißt es in einer Untersuchung zum globalen Bildungsstand junger Leute. Erstellt wurde sie von einem Münchner Institut namens CESifo, das zur Uni München und zum ifo Institut gehört. Ein Befund schien besonders krass: Im südlichen Afrika seinen es sogar 94 Prozent der Jugendlichen, denen grundlegende Fähigkeiten zum Verstehen und Gestalten der Welt fehlten. In Deutschland immerhin noch 20 Prozent, in China nur sechs Prozent.
Der eigentliche Skandal der Studie ist ein anderer. Er liegt darin, was die Studie als Basic Skills definiert, die, so sagt es schon der Titel, „global universell“ sein sollten. Gleich im ersten Satz lässt das Dokument keinen Zweife
nen Zweifel daran, was die Forscher darunter verstehen: Es sind die Fähigkeiten, die Menschen brauchen, um „international konkurrenzfähig“ zu sein. Es ist das, was man benötigt, um „in modernen Ökonomien teilhaben zu können“. Zu diesen Fähigkeiten zählt das Münchner Team – wenig überraschend – Mathematik und Naturwissenschaften.Warum sollte es im südlichen Afrika zu den grundlegenden Fähigkeiten eines jungen Menschen gehören, in der sogenannten modernen Ökonomie eines „entwickelten Landes“ wettbewerbsfähig zu sein? Die Autoren der Studie haben darauf eine einfache Antwort: Die einen Länder sind eben schon „entwickelt“, und zwar dahin, wo die anderen, nicht entwickelten Länder sich hinentwickeln müssen, damit alle Probleme, von „der Beseitigung der Armut bis zur Schonung der Ozeane“, gelöst werden können.Vielleicht braucht es in armen Ländern aber nicht die Mathematik und die Naturwissenschaften, die es einem Arbeitnehmer in Europa womöglich erlauben, eine begehrte „Fachkraft“ zu werden, sondern Fähigkeiten im Anbau von Getreide und in der Kooperation bei der Fischzucht? Und was die Erhaltung der Ozeane betrifft: Haben die Probleme der Umwelt und des Klimas nicht erst mit der mathematisch-naturwissenschaftlichen Beherrschung der Natur begonnen? Warum sollte ausgerechnet eine wettbewerbsorientierte Wirtschaft nach europäischem Vorbild für die Lösung der Probleme hilfreich sein, wo diese Wirtschaftsform inzwischen doch als Wurzel der gegenwärtigen Umwelt- und Klimaprobleme identifiziert ist? Und sind die Menschen, die die Basic Skills besitzen, dadurch irgendwie glücklicher und zufriedener als Menschen in anderen Weltgegenden, insbesondere die Skill-Spitzenreiter in China?Die grundlegenden Fähigkeiten, die ein junger Mensch beispielsweise in Ghana haben sollte, sind ganz gewiss nicht die gleichen wie die, die man in Mitteleuropa braucht, und schon gar nicht sind die europäischen Standards ein Vorbild für den Rest der Welt. Aber auch für diese „moderne“ – und das heißt ja vor allem: technisch organisierte – Welt ist fraglich, ob Mathematik und Naturwissenschaften die wichtigsten Bausteine der Bildung sind. Sicherlich ist es in den USA oder in Europa von Vorteil, wenn junge Leute Gleichungssysteme lösen können. Vor diesem Hintergrund ist es fragwürdig, wenn in den USA der Mathematikunterricht reformiert werden soll, weil nichtweiße Schüler in diesem Fach schlechtere Noten haben – wobei sich auch hier die Frage stellt, ob das die wichtigsten „Basic Skills“ sind. Um in der krisengeschüttelten Zukunft, die uns die Fokussierung auf Wettbewerb, Mathematik und Naturwissenschaft am Ende eingebracht hat, zurechtzukommen, käme es vielleicht auf Grundfähigkeiten an, die die Kinder in den angeblich unterentwickelten Ländern eher beherrschen. Wer kommt ohne Strom und ohne Technik im Alltag zurecht?Zu den Grundfähigkeiten, die Kinder erwerben sollten, gehört vielleicht das Wissen über die eigene Kultur, die eigenen Traditionen, viel eher als Mathematik und Naturwissenschaft. Alte Geschichten zu kennen, Lieder singen zu können oder gar schwimmen und auf Waldpfaden rennen zu können, das könnten Grundfähigkeiten sein, die jedes Kind erwerben sollte. Wie sähe wohl das Ergebnis eines globalen Tests aus, der solche Fähigkeiten misst?Nun könnte man sagen: Es ist nur eine Studie eines wirtschaftsnahen Universitätsinstituts in Bayern – wen interessiert das? Das Problem ist aber, das die Ergebnisse von den Medien hierzulande unkritisch aufgenommen und verbreitet werden. Sie bestätigen Vorurteile, die in der Tradition des europäischen kolonialen Blicks auf den Rest der Welt stehen. Noch immer meint man, an der Spitze einer angeblichen Entwicklung der Menschheit zum Höheren zu stehen und von dieser Position aus für andere bestimmen zu können – und zu müssen –, was sie tun sollen, um endlich auch auf unsere Stufe zu gelangen. Seit Kant hat sich da nichts verändert, obwohl doch inzwischen klar geworden ist, dass dieser Weg in die Katastrophe und nicht in eine lichte Zukunft führt. Wo auch immer sich andere Weltregionen hinentwickeln sollten, die europäische Gesellschaft kann gewiss nicht ihr Ziel sein. Darüber sollten wir in Europa und Nordamerika nachdenken. Denn es ist auch unsere Zukunft.