Diskurs Ist Jürgen Habermas’ neue Diagnose vom „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ aktuell? Unser Autor meint, dass der wirkmächtige politische Theoretiker die Digitalgesellschaft übersieht
Um die Digitalgesellschaft klar zu erkennen, braucht es mehr als eine Brille
Foto: Janine Schmitz/photothek.net
Jürgen Habermas ist nicht der Erste, der in den letzten Jahren zu der Diagnose gelangt ist, dass das Internet und die sozialen Medien zu einem dramatischen Wandel der politischen Öffentlichkeit geführt hätten, mit gravierenden Folgen für die Existenzbedingungen der westlichen Demokratien. Aber wenn er, einer der international bedeutendsten und wirkmächtigsten politischen Theoretiker der letzten Jahrzehnte, sich dazu äußert, wie sich die „Struktur der Öffentlichkeit“ wandelt und was das für die Demokratie bedeutet, dann hat das einen besonderen Stellenwert.
Sechzig Jahre ist es her, dass Habermas’ erstes Buch mit dem Titel Strukturwandel der Öffentlichkeit erschien. Das Buch, welches nun den „neuen Strukturwandel&
uen Strukturwandel“ beschreibt, ist ein schmales Bändchen. Es besteht aus drei Teilen, die alle bereits an anderen, für das breite Publikum nicht ohne Weiteres zugänglichen Orten erschienen sind: ein umfangreicher Aufsatz, in dem es nach einer systematischen Hinführung um das Kernthema, den neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit und die Konsequenzen geht, sowie ein Interview und ein weiterer kurzer Aufsatz über deliberative Demokratie – das von Habermas entwickelte Modell, bei dem politische Entscheidungen durch Abwägung, Argumentation und Konsensbildung zustande kommen.Der Hauptteil beginnt mit einem methodischen Teil, den man auf keinen Fall überspringen sollte, insbesondere, wenn man mit Habermas-Werken nicht gut vertraut ist. Er erklärt hier, was eigentlich der Anspruch seiner Arbeit ist: Ist es eine empirisch gestützte Beschreibung der Wirklichkeit, oder ist es eine normative Theorie, also quasi eine Vorschrift, wie die soziale und politische Welt sein müsste, damit sie gut funktioniert? Weder noch. Habermas will das beschreiben, was die Menschen intuitiv annehmen und voraussetzen müssen, damit sie überhaupt politisch handeln können, genauer gesagt, damit sie dazu bereit sind, sich am politischen Prozess konstruktiv zu beteiligen. Ein Beispiel: Damit eine Wählerin zur Wahl geht, muss sie davon überzeugt sein, dass ihre Stimme tatsächlich so zählt, wie es vorgesehen ist. Mehr noch, sie muss davon überzeugt sein, dass sie mit ihrer Wahl auch in etwa das bekommt, was versprochen ist.Diese Voraussetzungen sind Gegenstand der Habermas’schen Untersuchungen. Ihm ist klar, dass die Welt nicht genau so ist, wie er es beschreibt, aber es muss im Wesentlichen so sein, denn wenn etwa die genannte Wählerin die Erfahrung machen würde, dass ihre Voraussetzungen nicht erfüllt werden, dann würde sie sich an den Wahlen nicht mehr beteiligen. Man erkennt die Brisanz des Ansatzes: Wer beim Lesen Habermas’ Überlegungen einerseits zustimmt, andererseits aber einen gravierenden Widerspruch zu den eigenen Erfahrungen wahrnimmt, sieht sofort die Gefahren für die Stabilität des politischen Systems.Krieg und PandemieUmso wichtiger ist allerdings eine kritische Distanz zu den oft apodiktisch formulierten Voraussetzungen im Habermas’schen Denken zu bewahren, gerade wenn sie plausibel erscheinen. Ein Beispiel: „Die Ergebnisse des Regierungshandelns müssen derart in einem erkennbaren Zusammenhang mit dem Input der Entscheidungen der Wähler stehen, dass die Bürger darin die rationalisierende Kraft ihrer eigenen demokratischen Meinungs- und Willensbildung bestätigt sehen können“, schreibt Habermas, und er kommt darauf in den Teilen zur deliberativen Demokratie zurück: Man wählt eine Partei für ein Programm, für politische Ziele, und wenn diese Partei dann in die Regierung gelangt, dann muss ein Stück des Programms auch umgesetzt werden.Das klingt plausibel, gilt aber nur für eine Demokratie, die sich nicht im Krisenmodus, sondern sozusagen im Normalbetrieb befindet. Wenn eine Pandemie oder ein Krieg ausbricht, ist es damit aber vorbei – die wichtigsten Entscheidungen, die hier zu treffen sind, können nicht in den Wahlprogrammen stehen, die ein Jahr vorher beschlossen wurden. Ob sich die Grünen heute noch an ihren Wahlkampfslogan „Keine Waffen in Kriegsgebiete“ halten sollten, ist fraglich. Somit ist es womöglich rational, wenn die Wählerin gerade nicht erwartet, dass die von ihr bevorzugte Partei sich an das Programm hält, was vor der Krise beschlossen wurde.Aber man muss Habermas’ Argumenten nicht zustimmen, um eine anregende und erhellende Lektüre zu haben. Das gilt insbesondere für die Abschnitte, in denen es um das Verhältnis von agonalen und diskursiven Politikmodellen geht: Ist demokratische Politik auf einen Wettbewerb der Parteien angelegt, bei dem die obsiegende Partei immer auf Zeit ihre Ziele durchsetzt, wie Chantal Mouffe es sieht, oder geht es darum, im Diskurs zu versuchen, ein Einverständnis, einen Konsens zu erzielen, wie es Habermas zugeschrieben wird? Habermas spricht zu dieser Frage viel von Missverständnissen und sicherlich ist es wieder wichtig, sich den methodischen Ausgangspunkt seines Denkens vor Augen zu führen: Müssen die Streitenden nicht immer annehmen, dass sie tatsächlich die besseren Argumente haben und dass es möglich sein müsste, andere, auch die Gegenseite, von diesen Argumenten zu überzeugen?Eine Verfallsgeschichte?Da ist, im Rahmen des theoretischen Ansatzes, den Habermas vertritt, sicherlich etwas Wahres dran. Aber an dieser Stelle scheint dann schon die empirische Fragwürdigkeit seiner Vorstellungen von einer modernen Demokratie auf, die dann bei der Diagnose des „neuen Strukturwandels“ unübersehbar ist. Die Geschichte der politischen Öffentlichkeit in der demokratischen Gesellschaft wird von Habermas als Verfallsgeschichte erzählt: In den Zeiten, als sich die parlamentarische Demokratie einrichtete, war es noch so, dass sie so nahe an Habermas’ Modellvorstellungen war, dass seine Voraussetzungen fast erfüllt waren, da debattierten die Politiker noch, um sich gegenseitig zu überzeugen, und vermittelt durch die Öffentlichkeit machten sich die Bürger ihr Bild, das dann zur nächsten Wahlentscheidung führte. Heute, bedingt durch den Verfall der Öffentlichkeit, ist das alles in Gefahr.Habermas sieht nicht die Kontinuität zwischen den Gesprächen in der Betriebskantine und am Stammtisch und den Filterblasen in den virtuellen Communitys. Er sieht nicht die Kontinuität zwischen den gedruckten Zeitungen und den Web-Portalen der Zeitungsunternehmen. Er meint noch immer, die Zeitungen hätten für das Internet noch kein tragfähiges Geschäftsmodell gefunden und kennt offenbar die Zuwachsraten bei den Online-Abonnentenzahlen nicht. Er weiß offenbar nicht, dass der Großteil der Informationen, die in den sozialen Medien geteilt werden, aus den Redaktionen dieser Anbieter stammt. Er meint, die Angebote der Plattformen seien weitgehend unreguliert, und scheint die Kontrollpolitik von Facebook und Twitter noch nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Kurz: Habermas’ Analyse der Online-Öffentlichkeit liest sich, als sei sie vor zehn oder gar 20 Jahren entstanden, als tatsächlich noch vieles ungewiss war. Bedenklich ist dabei, dass er seine Sicht mit Verweisen auf aktuelle Arbeiten von Kollegen stützen kann – das verweist darauf, dass in der politischen Wissenschaft, der die Online-Welt womöglich fremd bleibt, durchaus unrealistische Vorstellungen von der Struktur dieser Öffentlichkeit verbreitet sind.Würde Habermas die genannten Kontinuitäten in den Blick nehmen, würde ihm womöglich auffallen, dass die Struktur der Öffentlichkeit sich in den letzten Jahren gar nicht so sehr gewandelt hat, wie er meint. Doch, möchte man ihm zurufen, dieses lange Stück zu seinem Buch wird online genauso intensiv gelesen wie in der gedruckten Zeitung, und die Leute, die den Link teilen, machen nichts anderes als die, die einander früher gegenseitig auf Artikel hingewiesen haben. Weiterhin sind es die kleinen und großen Zeitungen, die durch ihre professionelle Arbeit den Diskurs der Öffentlichkeit strukturieren, und weiterhin erreichen sie die Leute, die regelmäßig ins Wahllokal gerufen werden, damit unterschiedlich gut, und weiterhin gibt es ein großes diffuses Gerede in den Kneipen und in den Kommentarspalten der Online-Plattformen.Wenn die Demokratie heute in Schwierigkeiten gekommen ist, die vor Jahrzehnten niemand erwartet hat, liegen die Ursachen womöglich nicht in einem Strukturwandel der Öffentlichkeit. Aber wenn die politischen Theoretiker weiterhin nur im virtuellen Raum nach diesen Ursachen suchen, werden sie sie vielleicht nie finden.
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