Rock-Ikone Wir brauchen keine weitere Heldin, es gibt keinen Weg zurück. Einige persönliche Gedanken zum Tod von Tina Turner und der Letzten Generation
Meine ersten paar D-Mark vom „Begrüßungsgeld“ habe ich in einem Bücherladen gelassen. Aber als ich im Herbst 1989 zum zweiten Mal Westberliner Boden betrat, geriet ich eher zufällig in das Foyer des noblen Kaufhauses des Westens. Dort hatte man, wohl um uns nervige Ostdeutsche von den oberen Etagen fernzuhalten, deren Produkte wir sowieso nicht bezahlen konnten, riesige Körbe aufgebaut, voll mit den Artikeln, von denen man annahm, dass wir sie am meisten begehrten. Ich erinnere mich an einen mit Süßwaren und einen mit Musik-Kassetten. In Goldgräberstimmung durchforstete ich letzteren und hielt schon bald eine Trophäe in den Händen: Tina Turners Album „Private Dancer“, das zu diesem Zeitpunkt gerade fünf Jahre al
alt war.Es folgte meine erste Lehrstunde im Fach „Wie es im Kapitalismus wirklich zugeht“. Hatte ich geglaubt, dass sich sogleich ein Kassierer finden würde, der gierig und freundlich einen meiner 10-DM-Scheine in Empfang nehmen würde, stellte sich nämlich heraus, dass es gar nicht so einfach war, mein Geld gegen die Ware zu tauschen, die ich doch schon in den Händen hielt. Die Kasse bei den Kassetten war nicht besetzt, und die Kollegin direkt daneben wies mich mit der mir vertrauten Berliner Liebenswürdigkeit darauf hin, dass sie, doch wohl offensichtlich, nur für die Schokoladen und Kaubonbons zuständig wäre. So wartete ich, wie ich es gewohnt war, geduldig darauf, dass ich rechtmäßiger Eigentümer des ersehnten Produkts werden konnte – und hatte etwas Wichtiges für mein restliches Leben gelernt.Nun besaß ich meine erste Original-Musik-Kassette von Tina Turner, nichts zusammenkopiertes oder bei „Duett – Musik für den Rekorder“ aufgenommenes, nein: ein originalverpacktes Kompakt-Tonband, voller Hits dieser hocherotischen Stimme, mit Strophen, die zugleich rau und weich klangen, mit Refrains voll kraftstrotzender Energie einer Person, die wohl viel erfahren haben musste und daran fest und unerschütterlich geworden war.Eingebetteter MedieninhaltBerührt haben mich aber von diesem Album nicht so sehr Tina Turners Hitparaden-bekannte Titel, sondern das letzte Lied, die Cover-Version des Beatles-Songs „Help“. Überhaupt haben ja Frauen die besten Interpretationen der Boy-Group-Hits der 1960 geliefert, man denke nur an den Stones-Hit „Ruby Tuesday“, dessen Original heute keiner mehr kennt oder anhören würde, während die Interpretation von Melanie Safka einen noch heute von der ersten Zeile an ergreift und erschüttert. Womit ich keineswegs abschweife, denn Melanies Lied kam zu mir durch die Stimme von Tamara Danz auf dem gemeinsamen Konzert von Silly und Gundermann. Und dass Tamara Danz in Stimme, Ausstrahlung und Erscheinung die Seelenverwandte jüngere Schwester von Tina Turner war, ist sicherlich unstrittig.Eingebetteter MedieninhaltEigentlich brauchte Tina Turner keine Texte, nicht mal Vokale, ein langgezogenes „Hmm“ von ihr war so vielsagend, erzählte so viel über ihre Erfahrungen und Sehnsüchte, wer brauchte da Worte? Wieviel Schmerz und Kraft, Stärke, die aus Leiden gewachsen war, lag in jedem einzelnen Ton, den diese Frau sang. Wieviel raue Zärtlichkeit, wieviel Selbstbewusstsein, aus Wut und Widerständigkeit gewachsen. Und dennoch: das, was diese Stimme sang, war eindringlich im buchstäblichen Sinn: Die Modulation von Tina Turner war der Kanal, über den die Geschichten, die sie erzählte, meinen Geist auf Dauer besetzten.Am nachhaltigsten gilt das für den Song, der mir, sozusagen als Schlussfolgerung aus Tina Turners Leben als erster in den Sinn kam, als ich die Nachricht von ihrem Tod bekam: „We don’t need another hero“ – Wir brauchen keine weitere Heldin, das postete ich sogleich auf Twitter. Ein Lied, das als Titelmusik für den dritten Teil des Dystopie-Dramas „Mad Max – Beyond the Thunderdome“ entstanden ist. Der Text erzählt von den Hoffnungen einer „Last Generation“. Aber es taugt nicht als Hymne derer, die sich heute als „Last Generation“ bezeichnen, denn die Kinder in Tina Turners Lied suchen nicht nach einem, der dafür zuständig wäre, ihre Forderungen zu erfüllen. Die last generation im Lied ist zugleich eine erste Generation, sie befindet sich an einem Übergang zu etwas Neuem, anderen, mit dem sie klarkommen muss. Vielleicht sind wir heute (in der postoptimistischen Zeit) eine letzte und zugleich erste Generation im Sinne dieses Liedes – wir wissen, dass wir uns durchschlagen können. Das Lied erzählt von einem Aufbruch ins Unsichere und Unwirtliche, aber in dem Wissen, dass es keinen Weg zurück nach Hause gibt.Eingebetteter MedieninhaltWenn ich mir wünschen dürfte, welches Lied von Tina Turner, dieser schönen, stolzen, starken Heldin meiner jungen Jahre mich ins Alter begleiten soll, dann ist es dieses. Und Help. Und Private Dancer. Und natürlich Typical Male. Und Don’t Wanna Lose You. I don’t want to lose you, Tina Turner.
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