Über Identität in einer fragilen Gegenwart: Wir könnten uns nicht fremder sein
Literatur Unser Autor beschreibt sich selbst als „alten weißen Mann“. Aus dieser Perspektive liest er „Wo die Fremde beginnt“ mit Gewinn. Und doch kann er der Autorin Elisabeth Wellershaus nicht ganz zustimmen
Jede Person ist ein einzigartiges Individuum, das macht uns alle einander fremd
Foto: Richard Baker / In Pictures via Getty Images
Gleich zu Beginn muss die Frage gestellt werden, die sich aufdrängt, auch denen, die sie ablehnen: Darf, soll und kann ein alter weißer Mann das Buch einer jungen schwarzen Frau rezensieren, zumal, wenn es darin um Identität in der fragilen Gegenwart geht, also offenbar doch um Erfahrungen, die dem Rezensenten fremd sein müssen, weil seine Identität eine ganz andere ist als die der Autorin? Und wenn man dazu bedenkt, dass Autorin und Rezensent sich in ihren Biografien kaum fremder sein können, unterscheiden sie sich doch nicht nur hinsichtlich Hautfarbe und Haarwuchs, Geschlecht und Alter, sondern überhaupt in allem, worin sich zwei Leute in diesem Land heute unterscheiden können.
Hohe Tatra und Andalusien
Ist die Autorin in einem hamburgischen bü
einem hamburgischen bürgerlichen Viertel und mithin da, wo man den Inbegriff der alten Bundesrepublik verorten kann, aufgewachsen, wie man bei der Lektüre erfährt, so drückte der Rezensent in einem Nest irgendwo zwischen Berlin und DDR-Westgrenze die Schulbank, also da, wo die DDR am provinziellsten war. Verbrachte die Autorin, die bei ihrer Mutter und Großmutter aufwuchs, ihre Ferien beim Vater in Andalusien, fuhr die intakte Kleinfamilie des Rezensenten gerade mal in die Hohe Tatra. Studierte die Autorin in London Theaterwissenschaften und Ethnologie, erwarb der Rezensent sein Diplom nach einem Studium der Physik und Meteorologie in Ost-Berlin. Lebt die Autorin heute selbstverständlich in Berlin, hat es mich in die westfälische Provinz – immerhin nach Münster – verschlagen.Wir könnten uns also nicht fremder sein – allerdings verdeutlicht der Vergleich vor allem eines: Es ist absurd, diese Fremdheit ausgerechnet an Hautfarbe und Geschlecht festzumachen. Und das lernt man auch beim Lesen von Wo die Fremde beginnt. Jede Person, so Elisabeth Wellershaus, ist ein so einzigartiges Individuum, dass wir uns ohnehin alle einander fremd sind.Liest man den Titel des Buchs als Frage, so können die Überschriften der ersten Kapitel als Antworten gedeutet werden: Überall, Nachbarschaften, Stadt, Arbeit, Freundschaft, Familie. Nur das letzte Kapitel fällt mit „Passing“ aus der Reihe, ist gewissermaßen fremd im Inhaltsverzeichnis.Wellershaus beginnt mit einer Anekdote, der Geschichte eines Missverständnisses: Sie, „eine afrodeutsche Frau im grellen Sommerkleid, das die vermeintliche Fremdheit zwischen ihnen und mir vorauseilend unterstreicht“, klingelt an der Tür zu dem Hamburger Bürgerhaus, in dem die Urgroßeltern gelebt hatten, um etwas über die heutigen Bewohner zu erfahren. „Skeptische Blicke“ treffen sie, „Abwehrreflexe“, die sie als „rassistische Geschütze“ zu deuten ansetzt, da erfährt sie, dass die Leute dort gerade einen Trauerfall beklagen. Wellershaus entwickelt aus dieser Anekdote heraus die selbstkritische Reflexion aller Erfahrungen und Erlebnisse von Fremdheit, die die Autorin seit ihrer Kindheit in verschiedenen Kontexten und Lebensphasen gemacht hat.Die Erfahrung der Corona-Pandemie spielt dabei eine besondere Rolle, die Isolation, die Neubesinnung, die Neubestimmung von Distanz und Nähe zu anderen. Fremdheit, so stellt sich heraus, wird nicht nur durch andere erzeugt, Fremdheit wird auch durch mich selbst im Handeln und Sprechen, im Abgrenzen, im Übersehen und Verweigern hergestellt. Die Fremde beginnt beim Ich, so möchte man den Titel des Buches Die Freiheit beginnt beim Ich der Publizistin Anna Schneider (der Freitag 46/2o22) paraphrasieren, wenn man den Beobachtungen und Reflexionen von Elisabeth Wellershaus folgt. Denn die Autorin beobachtet nicht nur das Befremden, das ihr von anderen entgegengebracht wird, sie geht dem eigenen Fremdeln nach.Begriffe wie „flexible“, „elastische Identität“, ein „diverses“ und „heterogenes“ Wir helfen dabei, diese Erfahrungen auf Begriffe zu bringen. Wenn Wellershaus von einem „Wir“ spricht, meint sie keine Vereinheitlichung und keine Gleichmacherei. Die Schriftstellerin Toni Morrison zitierend meint sie, das Wir müsse „Unterschiede aushalten, ohne die Abweichungen des anderen zum Vorwand für Abwertung zu nehmen“. Nötig dazu ist das „aufrichtige Interesse am Du“, schreibt die Autorin. Das würde bedeuten, dass ich die andere, fremde Person eben nicht als Exemplar einer noch so fragmentierten Kollektividentität, sondern als Individuum, als ein heterogenes, diverses Ich wahrnehme.„Weiß“ schreibt sie kursivAllerdings bleibt der Text mir dennoch seltsam fremd, und das liegt nicht an der so ganz anderen Biografie, die mich von der Autorin unterscheidet – oder vielleicht doch? Es liegt daran, dass sie konsequent die Doppelpunkt-Genderform nutzt, die ich zwar kenne, die mir aber fremd bleibt. Es liegt daran, dass sie das Adjektiv „schwarz“ immer mit großem Anfangsbuchstaben schreibt, während „weiß“ immer kursiv geschrieben wird, ein Code, der bestimmt etwas bedeutet, vermutlich könnte ich es im Internet herausfinden, der mir aber fremd bleibt. Vielleicht ist es gut, bei aller Zustimmung, dass da etwas bleibt, was auf eine grundsätzlichere Verschiedenheit verweist.Leider hält der Text jedoch seine anfängliche Reflexionstiefe nicht durch. Freundschaften scheinen für die Autorin nur der Quell wahrer Nähe ohne Fremdheit zu sein, und in der Familie sollen uns nur die Vorfahren wegen ihrer dunklen und verschwiegenen Vergangenheit fremd sein. Vor allem wäre auch hier interessant gewesen, wie das einzelne Individuum selbst für Fremdheit verantwortlich ist.Das Buch liefert keine Erklärungen, keine zusammenfassende Theorie, und es zieht keine Lehren, gibt keine Ratschläge. Das ist gut so. Es motiviert vielmehr zur genaueren Beobachtung eigener Abgrenzungsreflexe, die Fremdheit hervorbringen und Nähe verhindern.
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