Zwölf Autoren streiten übers „Canceln“: Weg mit Winnetou!?
Sachbuch Niemand will Literatur ernsthaft verbieten. Aber: Wo aber fängt Zensur an? Der Sammelband „Canceln. Ein notwendiger Streit“ versammelt Beiträge zum Thema. Ein Buch, das in jedes Bücherregal gehört, findet der Philosoph Jörg Phil Friedrich
„Canceln“: Die Debatte erhitzt die Gemüter – ein Sammelband schafft Abhilfe
Foto: Imago/Heritage Images
In dicken schwarzen Großbuchstaben prangt vier Mal das Wort „Canceln“ auf dem Buch, jeweils energisch und sehr individuell mit roter Farbe durchgestrichen. Das sagt schon klar, worum es in dieser Essaysammlung geht: etwas, von dem einige meinen, dass es erdrückend die Debatten bestimmt, während andere sagen, dass es eigentlich gar nicht existiert, und von dem sich alle einig sind, dass es natürlich nicht existieren darf oder sollte – wobei, wie gesagt, die einen schon die Debatte übers Canceln für falsch halten, weil sie etwas behauptet, was gar nicht real ist, die anderen wiederum meinen, dass da eine große Gefahr für Vielfalt und Meinungsfreiheit besteht und es deshalb zu bekämpfen ist.
Niemand will Literatur verbieten, oder?
en, oder? Das Buch verspricht im Untertitel, einen notwendigen Streit zum „Cancel-Komplex“ zu enthalten. Es löst dieses Versprechen insofern ein, als dass es die Standpunkte in der Debatte durch pointierte Beiträge aufzeigt. Allerdings wird in dem Buch nicht gestritten, es gibt keine Widerrede zwischen den Beiträgen, sie stehen mit ihren Argumenten nebeneinander und der Streit tobt – wenn man so will – allein in der Person, die über das Buch gebeugt sitzt und liest. Aber allein das ist natürlich schon ein großer Verdienst und vor allem derer, die mit ihren durchdachten, sachlichen Essays dazu beigetragen haben.Es sind genau ein Dutzend Texte. Mithu Sanyal ist dabei, Ijoma Mangold, Daniela Strigl, Adrian Daub, auch Jürgen Kaube. Sie entwickeln ihre Standpunkte zumeist an konkreten Fällen, die die Debatte ums vermeintliche, tatsächliche, berechtigte oder gefährliche Canceln in den letzten anderthalb Jahrzehnten bestimmt haben. Und so ist das Ganze auch eine Art Geschichtsbuch, eine Erinnerung an erbitterte Diskussionen, die dazu beigetragen haben, ein Problembewusstsein überhaupt zu entwickeln, Meinungen zu festigen oder fragwürdig zu machen. Es lohnt sich vermutlich, dieses Buch schon allein dafür zu kaufen, um es ins Regal zu stellen und alle zehn Jahre wieder herauszuziehen und sich zu wundern, worüber wir gestritten haben. Es wird spannend sein, die Entwicklung des eigenen Denkens über die Ereignisse dieser Jahre weiter zu beobachten.Es geht um Pippi Langstrumpf, um Lukas der Lokomotivführer und um Winnetou, um Monika Maron, Woody Allen, J. K. Rowling, um Kleist und um Amanda Gorman. Allein, wenn man sich all die Cancel-Argumente rund um die Ereignisse, die mit diesen Namen verknüpft sind, in Erinnerung ruft, merkt man, wie vielschichtig die Problematik ist, die mit diesem einfachen, aber nicht einfach ins Deutsche zu übersetzenden Wort verbunden sind. Analysierende und deutende Rekonstruktionen der Geschehnisse wechseln sich ab mit allgemeinen Reflexionen und Bewertungen der kulturellen Situation, in der Canceln stattfindet oder behauptet und bestritten wird.Sag mir, wo du stehstMan hat zwei Möglichkeiten, mit der Vielfalt der Perspektiven und Standpunkte in diesem Band umzugehen: Man kann sich diejenigen heraussuchen, die die eigene Meinung stützen und die Geschehnisse der vergangenen Jahre noch einmal für sich selbst so einordnen, dass sich eine solide Bestätigung der eigenen Sicht ergibt, und Beiträge, die störend eine andere Sicht stark zu machen versuchen, empört als irrig abtun. Oder man lässt sich mit jedem Beitrag auf einen neuen Blick und einen anderen Aspekt ein. Dann dürfte man, wie der Autor dieser Zeilen, am Ende einigermaßen verwirrt sein über die Vielschichtigkeit des Problems, das im Canceln oder im Canceln des Cancelns steckt. Klar wird nur: Das Thema ist untrennbar mit den Identitätsdiskursen, mit den Streits um Feminismus und Rassismus in all ihren Varianten und Versionen verbunden. Sage mir, wo du identitätspolitisch stehst, und ich sage dir, wen du canceln möchtest oder warum du dich gegen das Canceln so wehrst.So liefert der Band jede Menge Material, Fallstudien ebenso wie grundsätzliche Reflexionen zu der Frage, was Identität ist und warum wir so darum streiten. Alles ist dabei merkwürdig vorläufig, unvollständig, fragmentarisch. Eine konsistente Theorie des richtigen Cancelns oder eine plausible Antwort auf die Frage, wie Canceln zu vermeiden sei, hat niemand zu bieten. Das ist wohl auch noch längst nicht möglich. Der Band ist ein gemeinsamer Schritt auf einem Weg, den die Leute, die da beigetragen haben, noch gehen müssen, damit eine nachsichtige, tolerante Gemeinschaft unterschiedlicher Identitäten möglich wird.Man fragt sich, ob dieses Dutzend kluger Leute mit ihren guten Argumenten mal zusammengekommen sind und wirklich gestritten haben. Vielleicht ist es dazu noch zu früh. Aber sie haben einen Boden bereitet, auf dem eines Tages Verständigung möglich wird. Wenn das Buch im Untertitel einen notwendigen Streit verspricht, dann vielleicht den, der durch diese Beiträge möglich wird, und der das Canceln, sei es real oder eingebildet, hoffentlich ersetzt.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1