Als Nikita Chruschtschow Ende März 1958 nach dem Rücktritt von Nikolai Bulganin das Amt des sowjetischen Ministerpräsidenten übernahm, stand er im Zenit seiner Macht. Ein langer Weg lag hinter ihm, der Bergmannssohn aus der Ostukraine, dem es unter der Sowjetmacht möglich wurde, ein Polytechnikum in Moskau zu besuchen, begann seine Karriere 1934, als er ins Zentralkomitee der KPdSU gewählt wurde. Im September 1953, ein halbes Jahr nach Stalins Tod, stieg er als Erster Sekretär des ZK zum Parteichef auf, musste aber zunächst die Macht mit anderen teilen. Der konservative, teils stalinistische Flügel in der Parteiführung versuchte immer wieder, den hyperaktiven Reformer auszubremsen, der neue Wege einschlagen wollte und als Modernisierer auftrat.
Chruschtschow fühlte sich dazu durch die von ihm angestoßene Kampagne zur Entstalinisierung legitimiert. Sie hatte 1956 den XX. KPdSU-Parteitag beschäftigt und bald die kommunistische Bewegung weltweit erfasst. Sichtbarer Höhepunkt dieser Katharsis war zweifellos der Beschluss des XXII. Parteikongresses im Oktober 1961, die einbalsamierte Leiche Stalins aus dem Mausoleum in Moskau zu entfernen und an der Kreml-Mauer zu bestatten.
Außenpolitisch wollte Chruschtschow „das Eis brechen, in dem die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen festgefroren waren“. So bereiste er im September 1959 die USA, traf sich mit Dwight D. Eisenhower und verkündete nach seiner Rückkehr vor Zehntausenden im Moskauer Luschniki-Sportpark, dass es durchaus möglich sei, den Kalten Krieges zu beenden. Der US-Präsident jedenfalls sei dazu bereit. Die Aussichten waren sehr rosig und sehr trügerisch.
Kaum mehr erinnert wird hingegen, dass Chruschtschow nicht nur die sowjetische, sondern auch die ostdeutsche Planwirtschaft reformieren wollte. Er begegnete der DDR mit mehr Verständnis und Sympathie als alle nach ihm kommenden Sowjetführer, von Breschnew über Andropow bis Gorbatschow.
Die Gefahren des atomaren Wettrüstens vor Augen, wollte Chruschtschow den Wettbewerb mit dem kapitalistischen System aus dem Militärischen in die Sphären von Ökonomie, Wissenschaft und Technik verlagern. Hohe Wachstumsraten der Sowjetwirtschaft in den ersten Jahren seiner Herrschaft und die Tatsache, dass es die Sowjetunion war, die 1957 mit dem Sputnik einen ersten Satelliten in die Erdumlaufbahn geschossen hatte, ließen ihn hoffen, die USA in der Systemkonkurrenz mit friedlichen Mitteln zu schlagen. Viel erwartete man in Moskau etwa von der chemischen Industrie, schon wegen der günstigen Rohstofflage nach der Entdeckung riesiger Erdölfelder in Sibirien und Kasachstan.
Der 1959 beschlossene Siebenjahrplan stand dementsprechend unter der Losung „Einholen und Überholen“. Auch die anderen Länder Ost- und Mitteleuropas, im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) vereint, waren aufgerufen, sich am Systemwettbewerb zu beteiligen. Dabei rechnete der sowjetische Parteichef besonders mit der DDR. Dort hatte Walter Ulbricht 1958 sein Chemieprogramm auf den Weg gebracht. Dafür, dass dabei auf sowjetische Bedürfnisse ausgerichtete Sonderprojekte einbezogen wurden, kamen aus der UdSSR reichlich Erdöl und Kredite.
Chruschtschow war sich dessen bewusst, dass seine Chemiebranche nur als Grundstoff- und Rüstungsindustrie gute technologische Voraussetzungen aufwies. Ansonsten sollte die „deutsche Chemie“ die sowjetische voranbringen, die DDR anderen osteuropäischen Ländern beistehen. Günther Wyschofsky, Sektorenleiter Chemie in der Abteilung Grundstoffindustrie des SED-Zentralkomitees, wurde Präsident einer Chemiekommission des RGW. Chruschtschows Wertschätzung für die DDR-Ökonomie könnte ein Grund dafür gewesen sein, dass er im August 1961 zustimmte, als die Grenze der DDR zu Westberlin geschlossen wurde. Nun konnten keine Fachkräfte mehr abwandern. „Für die Wirtschaftslage der DDR war die Errichtung der Grenzkontrolle zwischen Ost- und West-Berlin eine beträchtliche Erleichterung“, schrieb Chruschtschow in seinen 1970 veröffentlichten Memoiren.
Doch auch nachdem die DDR-Wirtschaft „störfrei“ geworden war, blieb sie den erhofften Wachstumsschub schuldig. Noch mehr galt das für die Sowjetunion. Chruschtschow musste erkennen, dass sich mit der zentralen Steuerung der Wirtschaft hohe Zuwachsraten kaum erreichen ließen – so seine bittere Schlussfolgerung aus dem enttäuschenden Ergebnis der von Moskau aus geführten Kampagne, mit der in Südsibirien und Kasachstan Neuland für die Agrarproduktion gewonnen werden sollte. Chruschtschow setzte zum großen Schwenk an, auf sein Geheiß hin konnte der Wirtschaftswissenschaftler Evrej Liberman aus der Ostukraine in der Zeitung Prawda sein Credo einer Dezentralisierung verkünden: „Schluss mit der kleinlichen Bevormundung der Betriebe durch administrative Maßnahmen. Was der Gesellschaft nutzt, das muss auch für jeden Betrieb nützlich sein.“
Walter Ulbricht kam bei seinem Programm des „den Westen überholen, ohne einzuholen“ zu ganz ähnlichen Überlegungen wie der sowjetische Parteichef. Unter Bezugnahme auf Libermans Ideen verlangte er im Oktober 1962 von den Planern und Wirtschaftswissenschaftlern der DDR, die sowjetische Reformdebatte gründlich zu verfolgen und auszuwerten. „In Kürze“ würde zu Fragen der Dezentralisierung der Wirtschaftslenkung eine „fruchtbare Aussprache“ stattfinden. Dabei hatte er den im Januar 1963 stattfindenden VI. Parteitag der SED im Auge, zu dem Chruschtschow eingeladen war. Der kam gern und war der Stargast dieses Kongresses. Nicht nur, dass der Sowjetführer das von Ulbricht vorgestellte, bis Ende 1962 von einer Expertengruppe ausgearbeitete Reformkonzept eines „Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖS) begrüßte. Der von seinen Mitarbeitern als „ungewöhnlich klug, willensstark und bauernschlau“ eingeschätzte Chruschtschow, der mitunter leidenschaftlich agieren konnte – als er beispielsweise 1960 bei einer Rede vor der UN-Vollversammlung mit einem Schuh auf den Tisch hämmerte –, erfüllte mit seinem Besuch in der DDR nicht nur die Reformer im SED-Politbüro mit Genugtuung. Er erweckte auch in der Bevölkerung viel Sympathie.
Ulbricht schätzte an ihm vor allem, dass er als „Großer Bruder“ das Umdenken in der Wirtschaftspolitik deckte, schließlich war diese Wende in der SED-Führungsriege keineswegs unumstritten. Ungeachtet aller Verweise auf die sowjetischen Reformen verfolgte Ulbricht ein auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten der DDR zugeschnittenes nationales Reformkonzept, das hinsichtlich der geplanten Dezentralisierung deutlich über die Vorschläge Libermans hinausging.
Was er sich zur Unterstützung seines NÖS von Chruschtschow vor allem wünschte, waren langfristig gesicherte, möglichst aufgestockte sowjetische Waren- und Rohstofflieferungen. Die DDR-Wirtschaft, so argumentierte Ulbricht, habe sich seit der Staatsgründung 1949 nur erfolgreich entwickeln können, weil die UdSSR den Hauptteil des hohen Importbedarfs an Rohstoffen gedeckt habe. Chruschtschow sagte die gewünschten Hilfen zu, auch wenn das die Probleme in der sowjetischen Wirtschaft nicht eben minderte.
Mit dieser großzügigen Absicherung für das NÖS war es vorbei, als Chruschtschow im Oktober 1964 gestürzt wurde. Was folgte, war eine von Nachfolger Leonid Breschnew energisch betriebene „konservative Wende“, mit der sich auch die Sympathien für die DDR-Wirtschaftsreformen erledigt haben sollten. Mitte der 1960er Jahre konnte dies noch niemand vorhersehen: Dass damals die Ansätze für eine sozialistische Marktwirtschaft in der DDR verlorengingen, sollte sich 20 Jahre später als verhängnisvolle Leistungsbremse herausstellen. Zunächst einmal war der Verzicht auf das Neue Ökonomische System das Vorspiel für die Ablösung Ulbrichts durch Erich Honecker im Mai 1971.
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