Anfang vom Ende

1989 Vor 25 Jahren wird das Ergebnis von Kommunalwahlen in der DDR manipuliert und gefälscht. Die innere Erosion des zweiten deutschen Staates ist danach kaum mehr aufzuhalten
Ausgabe 18/2014

Regelmäßig alle vier oder fünf Jahre wurden in der DDR die Volkskammer oder die Kommunalparlamente wie Bezirks- oder Kreistage gewählt. Offiziell ging es weniger um das Votum an sich, sondern die zuvor geführte „Volksaussprache“. Man etikettierte diese seit den fünfziger Jahren als „Ausdruck sozialistischer Demokratie“ und „Höhepunkt des gesellschaftlichen Lebens“. Wer kandidierte, erschien zweitrangig. Es gab ohnehin nur den „Gemeinsamen Wahlvorschlag“, getragen von der SED, den Blockparteien DBD, LDPD, NDPD, CDU sowie den Massenorganisationen, etwa dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB). Die DDR verstand sich nicht als Rätedemokratie nach sowjetischem Muster, sondern als Mehr-Parteien-Staat, in dem jedoch der Führungsanspruch der SED unantastbar war. Die Partei handelte als „Avantgarde der Arbeiterklasse“, so die Überzeugung.

So blieben dem Wähler drei Optionen: Er konnte der Einheitsliste zustimmen oder dieselbe verwerfen oder notfalls einzelne Kandidaten streichen. Sich dem als „Zettelfalten“ verspotteten Wahlakt zu entziehen, war kaum möglich, da „Wahlschlepper“ mit „fliegenden Wahlurnen“ Bürger aufsuchten, die bis zum Nachmittag ihre Stimme noch nicht abgegeben hatten. Vielfach sahen sich Wähler angehalten, als Hausgemeinschaft geschlossen abzustimmen und im Wahllokal bald nach dessen Öffnung (8.00 Uhr) zu erscheinen. Die Auszählung durch eine Wahlkommission ab 18.00 Uhr war öffentlich und beendete den Wahltag. Eine Mehrheit der DDR-Bürger arrangierte sich mit diesem Ritual – 98 oder 99 Prozent konnte der „Gemeinsame Wahlvorschlag“ in der Regel für sich verbuchen.

War das auch für die Kommunalwahl vom 7. Mai 1989 zu erwarten? Eine sich demokratisierende Sowjetunion beflügelte die Fantasien, je mehr das SED-Politbüro jeden Bedarf an einer DDR-Perestroika verneinte. Viele Bürger waren zudem unzufrieden mit Behörden-Willkür bei Westreisen. Ein seit Januar 1989 gültiges neues Reisegesetz erlaubte zwar erstmals Beschwerden gegen abgelehnte Anträge. Was aus den Eingaben wurde, war jedoch oft undurchschaubar. Kein Wunder, dass die Zahl der Ausreiseanträge Richtung Westen weiter stieg. Tausende warteten darauf, dem zweiten deutschen Staat adieu zu sagen. Sie ließen keinen Zweifel, die Kommunalwahl aus Desinteresse oder Protest zu boykottieren. Der einige hundert Mitglieder zählenden oppositionellen Bürgerbewegung konnte das nicht entgehen. Sie agierte im Mai 1989 unter dem Schutz der Kirche und war von der überwiegend konfessionell nicht gebundenen DDR-Bevölkerung noch weitgehend isoliert. Bei dieser Abstimmung sahen die Oppositionellen freilich eine Chance, auf sich aufmerksam zu machen, indem sie von ihrem Recht Gebrauch machten, die öffentliche Auszählung in den Wahllokalen zu beobachten.

Auch die SED-Führung dürfte gewusst haben, dass diesmal 98 oder 99 Prozent mehr denn je eine Schimäre sein würden. Nervosität machte sich breit. Allein die SED-Bezirksleitung in der DDR-Hauptstadt befasste sich im April 1989 mehrfach mit dem mutmaßlichen Wählerverhalten in Ostberlin. Zwei Wochen vor der Wahl tagte zudem das SED-Zentralkomitee, wohl wissend, dass einige der 15 Bezirkssekretäre darauf aufmerksam gemacht hatten: Diesmal sei mit Nichtwählern und Gegenstimmen in Größenordnungen zu rechnen. Und das keine sechs Monate vor dem 40. Jahrestag der DDR. Konnte man – oder besser: sollte man dafür sorgen, dass bei dieser Wahl noch einmal alles so sein würde, „wie es sich gehörte“. Offenkundig teilte Erich Honecker als SED-Generalsekretär diese Auffassung, woraufhin man wusste, was zu geschehen hatte.

Am Wahltag waren die Städte und Dörfer wie üblich festlich geschmückt, überall Fahnen und Plakate. Bald aber zeigte sich nicht zuletzt bei Live-Übertragungen des DDR-Fernsehens aus den Wahllokalen – anders als früher schritten weniger Hausgemeinschaften vereint zur Stimmabgabe. Noch mehr überrascht wurden lokale Wahlkommissionen durch die teils massive Präsenz von Bürgerrechtlern beim Zählen nach 18.00 Uhr. Ungeachtet dessen verkündete Egon Krenz – seinerzeit die Nummer zwei in der SED-Hierarchie – gegen 19.30 Uhr in der Aktuellen Kamera, der Nachrichtensendung des DDR-F: 98,5 Prozent haben sich für die Einheitsliste entschieden. Freilich stand diese Quote in einem deutlichen Kontrast zu den vorzugsweise in größeren Städten von Wahlbeobachtern kontrollierten Resultaten. Sie hatten festgestellt, dass die Zustimmung zwischen 70 und 97 Prozent lag und damit dem von Krenz offiziell mitgeteilten Ergebnis der Zentralen Wahlkommission klar widersprach. Bald nach dem 7. Mai wurden die Wahlunterlagen vernichtet, sodass sich das tatsächliche Ergebnis später nie exakt ermitteln ließ. Was man in gut 1.000 Wahllokalen im Beisein der DDR-Opposition ausgezählt hatte, wurde bundesdeutschen Medien des Hörfunks und Fernsehens zugespielt, die ihrerseits – soweit möglich – die DDR-Bevölkerung ins Bild setzten.

Es blieb nicht aus, dass die Wahlmanipulation auf das immer konfrontativere Verhältnis zwischen DDR-Regierung und -Opposition Einfluss hatte. Das Verlangen, die Fälschungen aufzudecken, spielte im Herbst der Wende eine erhebliche Rolle. Im Dezember wurden erste Ermittlungsverfahren eingeleitet, im Februar 1990 die ersten Urteile gegen Mitarbeiter von SED-Bezirksleitungen gesprochen.

Die Bürgerrechtler waren mit ihrer Wahlaktion aus dem Schutz der Kirche (damit auch aus der Bevormundung durch dieselbe) herausgetreten und als unabhängige Bewegung sichtbar geworden. Vielleicht noch wichtiger war ein anderes unmittelbares Resultat: Für bisher loyal gebliebene, aber zunehmend besorgte DDR-Bürger – darunter viele SED-Mitglieder – bestätigte sich die Vermutung oder der bereits seit einiger Zeit gehegte Verdacht, dass sich die Parteiführung weigerte, Realitäten wie die ökonomische Erosion, eine wachsende Verschuldung gegenüber westlichen Banken sowie den Ausreisewillen vor allem junger DDR-Bürger wahrzunehmen. Die Enttäuschung darüber sollte im Herbst 89 die Absage an Honecker und die dann von Krenz geführte Partei entscheidend prägen.

Im Frühsommer 1989 blieb es zunächst relativ ruhig. Für den Westen galt die DDR weiterhin als stabil. Knapp zwei Wochen nach der Kommunalwahl schätzte der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth bei Verhandlungen mit DDR-Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski Ostblock-Länder wie Polen, Ungarn und die Sowjetunion als zunehmend labil ein, klammerte jedoch die DDR von dieser Bewertung nachdrücklich aus.

Tatsächlich fanden zwischen Ostsee, Elbe, Werra und Oder im Juli oder August 1989 keine Demonstrationen statt. Auch gab es keine Proteststreiks gegen die offensichtliche Wahlfälschung vom 7. Mai, was nicht außergewöhnlich gewesen wäre, denn spontane Ausstände hatte es in der DDR auch nach dem 17. Juni 1953 immer wieder gegeben. Zu international registrierten Arbeitsniederlegungen kam es hingegen 1989 in der UdSSR, dem jahrzehntelang gepriesenen DDR-Vorbild und Klassenbruder Nummer eins. Die DDR schien von solchen Eruptionen verschont zu bleiben. Die Austrittsrate aus dem FDGB und der SED hielt sich den ganzen Sommer über in Grenzen. Ungeachtet der miserablen Figur, die sie bei den Kommunalwahlen abgab, wäre es für die SED-Führung noch immer möglich gewesen, sich den Erwartungen der Bevölkerung zu stellen und etwas gegen die drohende Ausreisewelle zu unternehmen. Immerhin hatte Ungarn im Mai 1989 damit begonnen, Überwachungsanlagen an der Grenze zu Österreich abzubauen. Aber der innere Zirkel um Honecker blieb stur und passiv. Erst sollte der 40. Jahrestag der Staatsgründung am 7. Oktober gefeiert werden. Diese Verbohrtheit sollte die DDR um ihre Existenz bringen.

Jörg Roesler ist Historiker und schrieb zuletzt über den Maastricht-Vertrag von 1993

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