1989: Kehraus

Zeitgeschichte Kurz nach dem Mauerfall kommt unter Premier Hans Modrow die erste DDR-Koalitionsregierung ins Amt. Statt wie erhofft Reformmotor zu sein, wird sie zum Konkursverwalter
Ausgabe 46/2014

Die 10. Tagung des SED-Zentralkomitees, anberaumt für den 8. bis 10. November, würde nicht den üblichen Verlauf nehmen. Das stand von vornherein fest, nachdem es am 18. Oktober auf der 9. Tagung die Demission Erich Honeckers und die Wahl von Egon Krenz zum neuen Parteichef gegeben hatte. Einen Tag vor dem Plenum gab Ministerpräsident Willi Stoph mit seinem Kabinett auf, angeschlagen, zermürbt und diskreditiert. Wer sollte ihn beerben? Noch hatte die SED laut Verfassung ein Vorschlagsrecht und entschied sich für Hans Modrow, bis dahin Bezirkschef in Dresden.

Auf einen ersten Blick schien alles wie gewohnt abzulaufen. Das ZK hatte seinen Favoriten nominiert, die Abgeordneten der Volkskammer würden das absegnen. Stutzen ließ allerdings die Biografie des von der Partei einmütig Auserkorenen, jedenfalls von einem bestimmten Punkt an: Bis zu seiner Ernennung zum 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden 1973 war an Modrows Karriere, die in der FDJ begann, nichts Ungewöhnliches. Dann stockte sie, der Bezirkschef – selbstbewusst auftretend, aber äußere Machtattribute ablehnend – hatte in der SED-Führung den Ruf eines Abweichlers. Besonders das Verhältnis zu Honecker galt als belastet. Der verdächtigte Modrow, Anwalt einer DDR-Perestroika zu sein, großen Gefallen an der Politik Michail Gorbatschows und an dessen liberalem Sozialismus zu finden.

Wenn Modrow nun die Regierung führen sollte, dann sicher als Reformer, vor allem aber als Retter in der Not. Es war nicht mehr die Frage, ob sich die DDR einem überfälligen Wandel öffnete, sondern inwieweit es gelang, sie aus einer existenzgefährdenden Krise zu führen und als SED verlorene Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Die Staatspartei glich einem sinkenden Schiff. Seit dem 40. Jahrestag kam es zu Massenaustritten.

Es kam hinzu: Als sich das ZK für Modrow entschied, war die Westgrenze noch geschlossen. Als der am 13. November 1989 von der Volkskammer gewählt wurde, gab es eine seit vier Tagen offene Grenze. Die DDR musste mit einer anschwellenden Westmigration rechnen. Landesweit rissen regimekritische bis -feindliche Demonstrationen nicht ab, neue Gruppierungen wie die ostdeutschen Sozialdemokraten (SDP), das Neue Forum und andere Bürgerbewegungen wollten mehr Einfluss. Und es gab für die künftige Regierung noch eine bedrohliche Mitgift: das bis dahin unter Verschluss gehaltene „Schürer-Papier“, benannt nach Gerhard Schürer, dem Chef der Staatlichen Plankommission. Es bilanzierte Devisenschulden der DDR von 48 Milliarden Valutamark, die abzubauen einen fallenden Lebensstandard heraufbeschwören würde. Wie sollte das verkraftbar sein, wenn jeder das Land in Richtung Westen verlassen konnte?

Über Modrows Vorgänger Stoph hatte die National-Zeitung der nun auffallend flügge gewordenen Blockpartei NDPD nach dessen Abgang geurteilt, er habe „seinen Verfassungsauftrag nicht nur nicht erfüllt, sondern sträflich verletzt. Er hinterließ politische Unordnung, wirtschaftliche Zerrüttung und einen großen Berg gravierender Probleme.“ Damit war eine Lage umrissen, in der es für Modrow nur dann Rückhalt geben konnte, wenn er keine SED-geführte Regierung, sondern ein Kabinett der Koalitionäre zu bilden gedachte. Der für den 17. November vorgesehenen Regierungserklärung mussten nicht nur die Abgeordneten der SED zustimmen. Sie sollte gemeinsame Plattform von fünf Parteien, auch der CDU, der LDPD, der Bauern- wie der National Demokratischen Partei sein. Dies verlangte, dass die SED-Führung nicht mehr maßgeblich eingreifen durfte wie bei Regierungsbildungen zuvor.

So hatte Modrow freie Hand und bemühte sich um neue Verantwortungsstrukturen, verringerte die Zahl der Minister und besetzte Ressorts mit neuen Leuten wie Christa Luft, deren Reformbewusstsein er vertraute. Die künftige Wirtschaftsministerin, bis dahin Rektorin der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst, war zunächst von ihrer Berufung überrascht, ließ sich aber von einem Eintritt ins Kabinett überzeugen. Auch wenn dort die SED mit 16 Ressortchefs weiter die Mehrheit hatte, stellten die Koalitionsparteien zwölf Minister und somit acht mehr als in der 44-köpfigen Regierung Stoph. Als einer von drei Vizepremiers war der neue CDU-Vorsitzende Lothar de Maizière nominiert, Außenminister blieb Oskar Fischer, zum Verteidigungsminister wurde Admiral Theodor Hoffmann ernannt.

Die Regierungserklärung erhielten alle Koalitionäre gleichzeitig zur Prüfung. Änderungsvorschläge, über die ein Konsens erzielt werden konnte, fanden im Entwurf ihren Niederschlag. Insofern war davon auszugehen: Was Modrow am 17. November 1989 in der Volkskammer als Eröffnungsbilanz vortrug, wurde von allen fünf Parteien mitgetragen. Der Regierungschef legte Wert auf Realismus ohne Zweckoptimismus, gab aber die DDR nicht verloren. An deren Demokratisierung solle es keine Abstriche geben, auch wenn man ökonomisch von der Substanz lebte. Modrow beklagte fehlende internationale Wettbewerbsfähigkeit der meisten Betriebe, eine inkonsistente Investitionspolitik, Disproportionen in der Volkswirtschaft und stagnierende Staatseinnahmen, so dass sich die bisherige Sozialpolitik nur bei steigender Verschuldung fortsetzen lasse. Die finanzielle Schieflage gebot dringend mehr Kooperation mit dem anderen deutschen Staat, zumal sich der traditionelle Wirtschaftspartner Sowjetunion außerstande sah, erfüllbare Hilfszusagen zu machen, wie Egon Krenz während seines Antrittsbesuches bei Gorbatschow in Moskau Anfang November erfahren musste.

In Bonn verfolgte man Modrows Einstieg naturgemäß sehr aufmerksam. In der Regierung Kohl hatte man die Flucht von etlichen tausend DDR-Bürgern über die ungarisch-österreichische Grenze und die BRD-Botschaften im Sommer weit weniger dramatisch gesehen, als bundesdeutsche Medien sie beschrieben. Genauer als zuvor wurden allerdings BND-Berichte studiert, die Stimmungen in der ostdeutschen Bevölkerung schilderten. Sie analysierten vor allem „Umfang und Intensität der seit Mitte September zunehmenden Protestszene“, konstatierten „ermutigende Signale aus dem Bereich der Blockparteien“ ebenso wie „Hilflosigkeit der DDR-Führung“, die bei der Bevölkerung „den Eindruck einer regelrechten Lähmung“ hinterlasse.

Die Auswechslung von Honecker und Stoph wurde in Bonn als Rückkehr zu politischer Handlungsfähigkeit gesehen. Denn „im Grunde sei man“, so die CDU-Spitzenpolitiker Lothar Späth und Walter Leisler Kiep in einer Unterredung mit einem Emissär von Krenz Ende Oktober, „aufeinander angewiesen, um die Dinge in Mitteleuropa in Griff zu halten. Eine Beruhigung der Lage in der DDR ist dazu nötig, aber auch Stabilitätshilfe seitens der Bundesrepublik.“

Ähnlich sah das zunächst auch Kanzler Helmut Kohl, der am 8. November 1989 in seinem „Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland“ vor dem Bundestag sagte: „Gegenüber der neuen SED-Führung erkläre ich unsere Bereitschaft, einen Weg des Wandels zu stützen, wenn sie zu Reformen bereit ist. Einen grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Wandel in der DDR zu fördern, ist unsere nationale Aufgabe.“ Modrow hatte darauf in seiner Regierungserklärung mit der Bemerkung reagiert, die DDR wünsche „die Zusammenarbeit mit der BRD umfassend auszubauen und auf eine neue Stufe zu heben“. Die schon seit den 80er Jahren existierende Verantwortungsgemeinschaft beider deutscher Staaten solle durch eine Vertragsgemeinschaft untersetzt werden, „die über bislang geschlossene Verträge und Abkommen zwischen beiden Staaten hinausgeht“.

„Wir sind bereit, diesen Gedanken aufzugreifen“, antwortete ihm Kohl am 28. November, als er sein „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ im Bundestag vorstellte.

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