1990: Winterschlussverkauf

Zeitgeschichte Vor 25 Jahren wurde die Treuhandanstalt gegründet. Sie gilt heute als Inbegriff für die Übernahme Ostdeutschlands durch den Westen. Dabei war die Idee einst eine andere
Ausgabe 10/2015

Bereits am 1. Februar 1990 hat das Kabinett von Ministerpräsident Hans Modrow ein „Regierungskonzept zur Wirtschaftsreform in der DDR“ verabschiedet und sich zum Eigentumspluralismus bekannt. Es heißt darin: „Neben dem Volkseigentum soll im Interesse der Entwicklung einer marktwirtschaftlichen Produktionsweise eine Vielfalt weiterer Eigentumsformen entstehen“. Das heißt auch, es ist zunächst nicht daran gedacht, das noch existierende Volkseigentum abzuschaffen. Das kommt bestenfalls für Ausnahmefälle in Betracht, etwa die Rücknahme der Enteignungen aus dem Jahr 1972 (seinerzeit wurden fast alle privaten wie halbstaatlichen Betriebe in der DDR in Staatsunternehmen umgewidmet). Ein abrupter Wechsel bei den Eigentumsverhältnissen soll auch möglich sein, wenn für DDR-Firmen eine ausländische Beteiligung (Joint Venture) vorgesehen ist oder besteht.

Bei den statischen Eigentumsformen wie bisher könne es nicht bleiben, befindet eine Arbeitsgruppe, die – vom Theologen Wolfgang Ullmann aus der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt (DJ) intendiert – schon im November 1989 ihr Arbeitspapier „Zukunft durch Selbstorganisation“ vorgelegt hat. Darin wird das in der DDR grassierende Desinteresse der Belegschaften an Zustand und Leistungen „ihrer“ Betriebe beklagt. Ullmann plädiert dafür, beim vorhandenen Volkseigentum dem Staat so viel wie möglich „zu entwinden“. Die Bürger sollten es selbst übernehmen und verantworten. Andere Herbstbewegungen wie der Demokratische Aufbruch (DA) und das Neue Forum (NF) tendieren mit ihren Überlegungen in eine ähnliche Richtung. Der Regierung von Premier Hans Modrow – sie ist seit dem 18. November 1989 im Amt – geht es hingegen mehr um Wirtschaftsreformen im Stile des „Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“, in dem kein wesentlicher Eigentumstransfer vorgesehen ist.

Ab Anfang Februar 1990 jedoch verändert sich die politische Situation im Überlebenskampf der DDR dramatisch. Die Bundesregierung teilt am 6. Februar mit, sie denke an einen raschen Beitritt des zweiten deutschen Staates zu ihrem Herrschaftsgebiet. Dies solle durch eine Wirtschafts- und Währungsunion geschehen, die ein anderes „ordnungspolitisches Fundament“ brauche als das Staatseigentum an Produktionsmitteln. Die Regierung Modrow muss einsehen, dass sie die von ihr favorisierte Vertragsgemeinschaft DDR/BRD abschreiben kann. Nunmehr steht für die Bürgerbewegungen des Runden Tisches und die DDR-Regierungsparteien unerwartet die Frage auf der Tagesordnung: Wie soll unter diesen Umständen mit dem bisherigen Volkseigentum umgegangen werden?

Bis Mitte Februar legt die „Freie Forschungsgemeinschaft Selbstorganisation“ von Demokratie Jetzt einen ersten detaillierten Vorschlag zur Gründung einer Treuhandanstalt vor. Wolfgang Ullmann, inzwischen Minister ohne Portefeuille im Anfang Februar gebildeten zweiten Kabinett Modrow, geht am 12. Februar mit seinen Treuhand-Vorstellungen an die Öffentlichkeit. Die Offerte findet verhaltene bis offene Zustimmung, in der Regierung besonders bei Wirtschaftsministerin Christa Luft, die Ullmanns Ansicht teilt: Es müsse eine Chance geben, damit das Volksvermögen auch bei Änderung seiner Rechtsform nicht der Bevölkerung entzogen wird.

Aus Furcht vor einem „Ausverkauf der DDR“ stimmen auch die meisten anderen Bürgerbewegungen für eine Reorganisation des Volkseigentums, als am 26. Februar 1990 ein Verordnungsentwurf der Regierung Hans Modrow für eine „treuhänderische Anstalt“ auf dem Runden Tisch liegt. Den Zuspruch durch die als Minister ohne Geschäftsbereich Berufenen Tatjana Böhm (Unabhängiger Frauenverband), Rainer Eppelmann (DA), Sebastian Pflugbeil (NF), Walter Romberg (SPD), Matthias Platzeck (Grüne Partei), Klaus Schlüter (Grüne Liga) und von Wolfgang Ullmann selbst gibt es „nicht ohne Bauchschmerzen“. Hauptkritikpunkt des Gremiums ist der Verzicht auf die Option, Anteilscheine am Volkseigentum unter der Bevölkerung zu verteilen. Was ebenso stört, ist die Absicht, allein der Regierung die Aufsicht über eine Treuhandanstalt zu übertragen, während das Parlament nur zusehen darf.

Inoffiziell haben sich zu diesem Zeitpunkt auch die ökonomischen Beratungsinstitute der Regierung Kohl für diese Pläne zur Umwandlung des Volkseigentums ausgesprochen. In einem Ende Januar 1990 fertiggestellten Sondergutachten „Zur Unterstützung der Wirtschaftsreformen in der DDR“ fordern sie zwar, die DDR müsse „einen ordnungspolitischen Kurs einschlagen, der den Rückzug des Staats aus der unternehmerischen Aktivität beinhaltet“, betonen aber zugleich, dies bedeute keine „Überführung der DDR in eine ‚staatsfreie‘ Wirtschaft. Für geraume Zeit kann es hingenommen werden, dass der Staat in manchen Bereichen unternehmerisch tätig bleibt.“ Gegen den Beschluss des Kabinetts Kohl zur raschen Privatisierung haben die fünf „Wirtschaftsweisen“ unverzüglich, aber letzten Endes vergeblich interveniert, wie sich zeigen wird.

Am 15. März 1990, drei Tage vor der anberaumten Volkskammerwahl, konstituiert sich die Treuhandanstalt mit einer Zentrale in Berlin und 15 Außenstellen in den Bezirken der DDR. Der Anfang gerät bescheiden. Die THA findet zunächst im Gebäude des DDR-Außenministeriums am Spreegraben eine Unterkunft. Die bürotechnische Ausstattung ist unzureichend. Anfangs muss man mit drei Kopierern und sieben Autos auskommen. Ein Stab von zunächst 91 Mitarbeitern, der bis Ende Juni auf 143 erweitert wird, steht zur Verfügung, um mehr als 8.000 Kombinate, Betriebe und Volkseigene Güter zu entflechten und in Kapitalgesellschaften zu überführen. Das Personal stammt aus den Industrieministerien und dem DDR-Finanzressort.

Auf diese Kompetenz kann auch die nach den Wahlen folgende, von der Ost-CDU geführte Koalitionsregierung unter Premier Lothar de Maizière nicht verzichten. Der begnügt sich mit der Ablösung des ersten Treuhandchefs, Peter Moreth, und ersetzt ihn durch dessen Stellvertreter, Wolfram Krause. Und selbst das geschieht nur unter dem Druck aus Bonn, man möge „ein Zeichen setzen“.

Doch das tut die Treuhand sowieso, wenn sie die sozialökonomische Landschaft der DDR unter den Pflug nimmt. Tausende von Verträgen werden fällig, und das „a tempo“. Für die ersten 150 „Vorgänge“ benötigt die THA sechs Wochen. Die in Ostberlin ansässigen Notare reichen für die Beurkundung nicht aus, man muss ab Mai vermehrt auf Kanzleien im Westteil der Stadt zurückgreifen. Bis zur Währungsunion, die am 1. Juli 1990 beginnt, wandelt die THA mehr als 3.600 VEB in Kapitalgesellschaften um. Die „restlichen“ 4.400 werden – es ist der letzte Akt der im März 1990 gebildeten Anstalt – per Gesetz in „Kapitalgesellschaften im Aufbau“ überführt. Gut 2.800 meist kleinere, 1972 enteignete Betriebe sind seit April reprivatisiert oder als Joint Ventures auf den Weg gebracht worden. Die Leistungen der Mitarbeiter der ersten THA seien – so schätzte es der Wirtschaftshistoriker Harm Schröter von der FU Dresden 1993 ein – angesichts der Engpässe an Erfahrung, Ausstattung und Personal „beachtlich“ zu nennen.

Das von der ersten THA bis Ende Juni 1990 erreichte Ziel der Umwandlung der VEB in Kapitalgesellschaften lässt noch offen, wohin die weitere Privatisierung führt, in welchen Formen und in welchem Zeitraum sie vollzogen werden soll. Kontroverse Debatten dazu gibt es, solange die DDR bis zum 3. Oktober noch als Staat mit freilich minimierter Souveränität existiert. Sie werden parallel zum Aufbau der THA zwischen Ostberlin und Bonn auf Regierungsebene sowie innerhalb der Volkskammer geführt, auch wenn mit der DM-Einführung doch eigentlich alle Messen gesungen sind.

Jörg Roesler ist Wirtschaftshistoriker und hat zuletzt über die Weichenstellungen zur Währungsunion mit der DDR geschrieben

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden