Die drei Gesichter

Zeitgeschichte 1953 Arbeiterrebellion, Volksaufstand im Osten? Oder waren es eher Straßenunruhen? Der 17. Juni 1953 jährt sich zum 60. Mal und dürfte viel Deutungsmacht auf den Plan rufen
Ausgabe 23/2013
Die drei Gesichter

Bild: AP

Die dominierende Charakteristik jenes Tages vor sechs Jahrzehnten lautet: Volksaufstand gegen das diktatorische SED-Regime in der Ostzone. Die Hauptbegründung: 701 Städte und Gemeinden waren seinerzeit Schauplatz der Proteste. Das klingt gut. Auch dass 1,2 Millionen Menschen auf den Straßen demonstrierten. Allerdings waren das nur etwa sechs Prozent der damals 18,2 Millionen DDR-Bewohner. In annähernd 1.000 Betrieben wurde am 17. und 18. Juni gestreikt! Sicher beachtlich, aber in den übrigen 19.000 Industriebetrieben ging offenbar alles seinen gewohnten Gang.

Vom Juni 1953 an bis zum Herbst 1989 behauptete die politische Klasse der DDR, es habe sich bei dem, was am 17. Juni geschah, um einen „faschistischen“ beziehungsweise „konterrevolutionären Putsch“ gehandelt, vom Westen als „Tag X“ vorbereitet, um die DDR zu destabilisieren, damit sie vom anderen deutschen Staat übernommen werden konnte.

Die Historiker in der DDR folgten geschlossen der Putschversion. Erst im Dezember 1989 korrigierten sie sich und beschrieben den 17. Juni 1953 als „offene Rebellion enttäuschter und verbitterter Arbeiter, vor allem in Großbetrieben und Großstädten“. Zu einer ähnlichen Deutung waren einzelne bundesdeutsche Kollegen schon früher gekommen. Bereits in den sechziger Jahren war für Arnulf Baring klar, „dass der 17. Juni kein Aufstand des gesamten Volkes“ gewesen sei. Als „Arbeiterrebellion“ beschrieb in den achtziger und neunziger Jahren der Mannheimer Historiker Dietrich Staritz, Verfasser der wohl am weitesten verbreiteten DDR-Geschichte, die Juni-Erhebung von 1953.

Für diese Version spricht vieles: Die Proteste gingen – anders als im Herbst 1989 – von den Betrieben aus. Arbeiter stellten die Mehrheit der Demonstranten. Auch die gewählten Formen der Auseinandersetzung mit der DDR-Obrigkeit stammten aus dem Repertoire der Arbeiterbewegung: Erst Betriebsversammlung, dann Beschluss über eine Arbeitsniederlegung, anschließend die Wahl von Streikleitungen. Vielfach wurde dieses Vorgehen als Solidaritätsaktion mit bereits in den Ausstand getretenen Kollegen in benachbarten Unternehmen aufgefasst. Die anfangs bei den Protesten vorherrschenden Forderungen ergaben sich unmittelbar aus dem Arbeitermilieu: „Runter mit den Normen“, „Verringerung der Überstunden“, „ein menschliches Pausenregime“, „mehr und bessere Arbeitsschutzbekleidung“.

Selbst die Forderung nach Absetzung der SED-Führung wurde oft ganz einfach begründet: „Wer Fehler gemacht hat, soll auch zurücktreten.“ Auf Betriebsversammlungen wurden vorwiegend gleichmacherische Forderungen artikuliert: Mit den höheren Vergütungen sowohl von Aktivisten aus den eigenen Reihen als auch oberhalb der „Kragenlinie“ – also der im Werk ansässigen Ingenieure und Techniker – sollte Schluss sein. Was auffiel: Die Angestellten in den Verwaltungen der Betriebe gingen zu den Arbeiterprotesten vielerorts auf Distanz.

Keine Rädelsführer

Die Beschreibung des 17. Juni als Rebellion – im Unterschied zu Aufstand oder Revolution – ergibt sich schlüssig aus einer Reihe weiterer Tatsachen. Es hatten sich zuvor weder in den Betrieben noch sonst wo einen Aufstand vorbereitende Gruppen gefunden, die programmatische Aufrufe verfasst hatten. Man übernahm Losungen wie „Sturz des kommunistischen Regimes“ oder „Einheit und Freiheit“ schlichtweg vom die Ereignisse medial begleitenden Sender RIAS, der sein Programm von Westberlin her ausstrahlte. Die Übernahme von Regierungsverantwortung durch die Streikenden war nicht vorgesehen. Die SED-Führung beauftragte nach dem 17. Juni die Staatssicherheit, energisch nach den „Rädelsführern“ zu suchen. Man fand keine.

Streiks und Proteste, die in Ostberlin bereits am 16. Juni begonnen hatten, setzten sich am 17. Juni 1953 mit Märschen fort, die um 6.00 Uhr am Strausberger Platz begannen und bis ins Regierungsviertel, zum Haus der Ministerien an der Leipziger Straße, führten. Ähnliches tat sich in Halle, Magdeburg, Leipzig, Weimar, Zwickau und in anderen Städten. Der 17. Juni zeigte in den Morgenstunden sein erstes Gesicht – das einer Arbeiterrebellion. Unterwegs schlossen sich den demonstrierenden Belegschaften – wie Zeithistoriker herausfanden – immer mehr Passanten, vor allem Hausfrauen und Jugendliche an. Zumindest Erstere hatten genauso gute Gründe wie die Bau- und Fabrikarbeiter, mit der DDR-Obrigkeit zu hadern. Sie hatten den im Herbst 1952 eingeleiteten und im Februar 1953 noch verschärften „Feldzug für strenge Sparsamkeit“ als Verlust von Verbrauchsgütern zu spüren bekommen. Auf die HO (Handelsorganisation), in deren Läden knappe und begehrte Lebensmittel zu überhöhten Preisen angeboten wurden, konnten die meisten Familien wegen der – durch erhöhte Normen – fallenden Löhne nicht mehr ausweichen, sodass Unmut in Entrüstung umschlug.

Was früh am Morgen noch wie ein Arbeiteraufruhr aussah, wirkte daher Stunden später wie ein breiter Sozialprotest. Der 17. Juni zeigte sein zweites Gesicht. Als die Demonstrationszüge in Ostberlin die Ministerien in der Innenstadt, in anderen Städten die Marktplätze und Rathäuser erreichten, trat eine gewisse Ratlosigkeit der Teilnehmer ein. Gegen 11.00 Uhr waren in der DDR-Hauptstadt alle Straßen um das Regierungsviertel von Demonstranten besetzt. Doch wie weiter? Jetzt wurde sichtbar, dass es den Protestierenden an politischen Führern, an Ideen oder Konzepten fehlte, um die Staatsgeschäfte zu übernehmen.

Nur eine Barrikade

So wurde in den Mittagsstunden ein drittes Gesicht des 17. Juni erkennbar: Es kam an manchen Orten zum Sturm auf Gefängnisse und Parteibüros durch die aufgebrachte Menge, zu Tätlichkeiten gegenüber Funktionären, zur Plünderung und Aktenvernichtung. Gegen 13.00 Uhr verkündete in Ostberlin der sowjetische Stadtkommandant, ab 15.00 Uhr gelte der Ausnahmezustand. Als daraufhin die ersten Panzer sichtbar wurden, zog sich die Mehrzahl der Demonstranten aus der Innenstadt zurück, in der nur eine Barrikade – in der Leipziger Straße – errichtet wurde. Die Arbeiter gingen in ihre Betriebe, die Hausfrauen in die Wohnviertel zurück , viele Jugendliche aber blieben, griffen Polizisten an, steckten Polizeibaracken und Verkaufskioske in Brand, auch größere Objekte, darunter das neunstöckige Columbia-Haus am Potsdamer Platz. Es kam zu Ausschreitungen, die der SED-Führung danach die Gelegenheit gaben, die Protestierenden als „Rowdys, Arbeitsscheue und kriminelle Elemente“ zu bezeichnen. „Unter der Anführung von Agentengruppen und aus den Haftanstalten entkommenen Verbrechern“ – hieß es beispielsweise 1960 in der offiziösen Geschichtlichen Zeittafel der Deutschen Demokratischen Republik – „kam es zu Brandstiftungen, Arbeitsniederlegungen und Überfällen auf Funktionäre des Staatsapparates.“

Jugendliche warfen in Ostberlin Steine auf die anrollenden sowjetischen Panzer, doch haben mehrere Historiker, darunter Dietrich Staritz, deren Einsatz „als relativ maßvoll“ beschrieben. Dazu, dass „der meist friedliche Aufstand Zentimeter für Zentimeter von Panzern niedergewalzt wurde“, wie es damals vom Westberliner Telegraf und von einer Publikation der Adenauer-Stiftung noch 50 Jahre später behauptet wurde, kam es jedenfalls nicht.

Wie gesagt, drei unterschiedliche Gesichter wies der 17. Juni 1953 auf – Gesichter, die sich im Laufe des Tages ablösten und die zu drei unterschiedlichen Interpretationen der Geschehnisse führten. Die eine verschwand mit dem Ende der DDR, die zweite hat die vergrößerte Bundesrepublik unbesehen übernommen. Zu einer dritten – der von einer Arbeiterrevolte, aus der schon mangels politischer Führer und eines ausformulierten Programms keine Volksrevolution werden konnte – bekennen sich heute viele Zeithistoriker.

Jörg Roesler ist emeritierter Professor für Geschichte und schrieb zuletzt über den amerikanischen Marshall-Plan von 1947

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