Personalüberhang 23 Prozent

DDR-Ökonomie Schon bald nach der "Wende" vom Herbst 1989 lernt die Belegschaft des DDR-Kombinats Kraftwerke im Lausitzer Braunkohlerevier mit dem zuvor Undenkbaren umzugehen

Am 8. März 1990 verabschiedet die Modrow-Regierung eine Verordnung über die „Aufgaben, Rechte und Pflichten der Arbeitsämter“ und zieht damit quasi die Konsequenz aus dem am 1. Februar 1990 beschlossenen „Regierungskonzept zur Wirtschaftsreform in der DDR“. Darin werden soziale Risiken, die sich „beim Übergang auf eine markt­wirtschaftliche Produktions- und Verteilungsweise“ aus dem Abbau von Arbeitskräften ergeben, nicht verschwiegen. Geht man beide Papiere 20 Jahre später noch einmal durch, erweckt die Lektüre den Eindruck, es habe in der gewendeten DDR einen zielgerichteten Brückenschlag zur Marktwirtschaft gegeben. War das tatsächlich so? Was geschah mit dem Personal großer DDR-Unternehmen zum Beispiel in den Betrieben des Kombinats Braunkohlekraftwerke (KBK). Dieser Koloss der Energieversorgung beschäftigte Ende 1989 fast 27.000 Menschen und das vorzugsweise in der Lausitz.

Der erste Schub

Als am 14. November 1989 die Koalitionsregierung Modrow das Kabinett von Ministerpräsident Willi Stoph (SED) beerbt, befindet sich „die Braunkohle“ noch voll im Griff der zentralen Planwirtschaft und des DDR-typischen Arbeitskräftemangels. 400 „Planstellen“, wie der bis dahin sichere Arbeitsplatz heißt, sind nicht besetzt, 360 Arbeitskräfte allein fehlen „in der Produktion“ (Energieerzeugung und Instandhaltung). Derartige Defizite fallen nicht aus der Reihe, auch der Maschinen- und Anlagenbau oder die Chemie-Industrie werden davon heimgesucht. Betriebe sind sich nicht zu fein, begehrte Arbeitskräfte anderswo abzuwerben und die staatliche Arbeitskräftelenkung zu übergehen. Für die existenziell wichtige Energiewirtschaft gilt seit Juli 1989 sogar eine Ausnahmereglung. Sie darf öffentlich Stellen inserieren und Personal akquirieren. Auch dieses Privileg lässt nicht alle Planstellen besetzen. Ende November 1989 wendet sich das Kombinat an das Ministerium für Nationale Verteidigung mit der Bitte um „Rückdelegierung von NVA-Kräften, die zur Zeit ihren Grundwehrdienst ableisten“, schreibt KBK-Generaldirektor Wilfried Retschke und begründet sein Anliegen damit, dass „durch eine Vielzahl von Republikflüchtigen und Auswanderern das Betreiben der Kraftwerksanlagen auf das Äußerte gefährdet“ sei. Er appelliert Mitte Dezember auch an die Regierung, auf der Schwelle zum Winter müsse etwas geschehen.

Es gibt Ende 1989 im Kraftwerkskombinat bereits Entlassungen in Größenordnungen. Sie betreffen die Abteilung I (Kader/Bildung), in der Angestellte des Unternehmens hauptamtlich für die Staatssicherheit, die SED, die Kampfgruppen, den Zivilschutz, die Freie Deutsche Jugend oder andere Organisationen gearbeitet haben. Ihnen zu kündigen, verlangt die Bürgerbewegung und das kompromisslos. In den Betrieben selbst wird versucht, in einzelnen Fällen zu differenzieren. So sollen in Jänschwalde, dem Stammbetrieb des Kombinats, die drei Stellen für die Gewerkschaftsbibliothek erhalten bleiben. In einem Rundschreiben vom 18. Dezember 1989 mahnt der Kombinatschef seine Betriebsleiter, sie sollten beachten, dass die „freigesetzten Kader“ laut Arbeitsgesetzbuch weiterhin einen Anspruch auf Arbeit im Kombinat hätten, „wenn auch mit zum Teil erheblich geringerem Einkommen“. Nicht jeder der Betroffenen nimmt den Verlust seines Arbeitsplatzes einfach hin. Einem Kläger, der sich auf dem gesetzlich korrekten Weg der Eingabe über seinen Rauswurf beschwert, antwortet der Direktor des Kraftwerks Hirschfelde. Dieses Veto zeige, „dass Ihnen die Tragweite und die Konsequenzen der Reformpolitik noch nicht verständlich sind“.

Ab Januar 1990 gilt das von SED-Wirtschaftssekretär Günter Mittag in den achtziger Jahren auf die Spitze getriebene Berichts- und Rapportsystem nicht mehr, dem die DDR-Kombinate unterworfen waren, wenn sie an ihre Jahresplanung gingen. Am 2. Januar weist der KBK-Generaldirektor seine Betriebsleiter an, sie hätten ihm bis Mitte des Monats aus den „Veränderungen im fachlichen Berichtswesen resultierende Ergebnisse an Einsparung von Arbeitszeit und Freisetzung von Leitungs- und Verwaltungspersonal schriftlich mitzuteilen“. Wer „freigesetzt“ ist, soll „voll für die Realisierung der neuen Anforderungen, die durch den Übergang zur Marktwirtschaft entstehen“, eingesetzt werden.

Tatsächlich nehmen die meisten KBK-Angestellten, die in der Verwaltung nicht mehr gebraucht werden, zunächst freie Stellen in Anspruch, die es in der Produktion noch immer gibt. Bald begreifen Generaldirektor und Betriebsleiter, dass mit dem Transfer zur Marktwirtschaft „notwendige Rationalisierungsmaßnahmen und Strukturveränderungen“ anstehen, von denen die gesamte Belegschaft betroffen sein wird. „Arbeitsbummelanten“ winkt kein Gespräch vor der Konfliktkommission mehr wie bis dahin üblich, sondern die Kündigung. Die meisten Produktionsarbeiter begreifen den Ernst der Stunde freilich erst, als während des Wahlkampfes vor dem Votum über eine neue Volkskammer am 18. März in der Lausitz Stimmen laut werden, man müsse Tagebaue schließen und Kraftwerke abschalten – aus ökologischen Gründen.

Betriebsräte gefordert

Erst jetzt begehren inzwischen gewählte Betriebsräte auf, um sich nicht ergeben an die Schlachtbank treiben zu lassen. Mit der Betriebsvereinbarung 03, die zwischen ihnen und dem Generaldirektor abgeschlossen wird, erreichen sie, dass bis zum 15. Mai 1990 ein „Sozialplan Weiterbildung und Umschulung der Werktätigen für künftige Freisetzungen bzw. Umsetzungen von Kolleginnen und Kollegen“ vorliegen muss. Anfang Mai wollen die Belegschaftsvertreter bis zum Inkrafttreten eines „Sozialpakets“ keiner Entlassung mehr zuzustimmen. Sie bestehen darauf, „jedem Werktätigen entsprechend seiner Qualifikation und Berufserfahrung eine zumutbare Arbeitsaufgabe im Betrieb anzubieten“.

Das ist alles andere als naiv, auch wenn es heute so scheinen mag. Die Betriebsräte glauben ernsthaft, durch mit den Betriebsleitungen ausgehandelte Maßnahmen würden kaum noch Arbeitsplätze verloren gehen, auch wenn von unverzichtbarer Rationalisierung im KBK die Rede ist. Dazu gehören ein absoluter Einstellungsstopp ab Mitte Juni 1990 und eine Vorruhestandsregelung, die ab 1. Juli beachtliche betriebliche Zuzahlungen zur gesetzlich festgelegten Vergütung für das Ausscheiden aus dem KBK sichert. Ferner der Übergang zur 40-Stunden-Woche (bis dahin 42,5 Stunden) ab 1. August. Unumstritten ist bei der Belegschaftsmehrheit der Entschluss des ab 1. Juli 1990 in eine Aktiengesellschaft (VK-AG) umgewandelten Kombinats, mit Wirkung vom 31. August alle Arbeitsverträge der Altersrentner zu kündigen. Außer der zunehmenden Angst um den eigenen Arbeitsplatz sind viele überzeugt, dass in der Noch-DDR Pensionäre mit der seit Juli geltenden Erhöhung des durchschnittlichen Rentenniveaus um 110 auf 560 DM „gut bedient“ seien.

Am 22. August 1990 wird dann ein Stromvertrag unterzeichnet, der die Leitung der VK-AG und anderer Energiebetriebe ab September de facto in die Hände westdeutscher Energiekonzerne gibt. Der notwendige Beschäftigungsumfang in den Lausitzer Kraftwerken wird vom neu eingesetzten Management an den Belegschaften der Kohlekraftwerke an Rhein und Ruhr gemessen. Demnach entspricht der „Personalüberhang“ in den ostdeutschen Kraftwerken jenen 23 Prozent, die bereits im Juni eine Arbeitsgruppe des Münchener Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo für den Industriezweig Energie und Brennstoffe der DDR ausgerechnet und an einem „überhöhten Personaleinsatz für Materialbeschaffung, Instandhaltung und Reparatur“ festgemacht hat. Bis zum 31. Oktober – so die Devise – sollen die nunmehr als „Niederlassungen“ bezeichneten Lausitzer Stromerzeuger durch „Personalvergleiche mit Partnerkraftwerken der RWE … Pläne für eine effiziente Arbeitskräftestruktur entwickeln“.

Die Betriebsräte dürfen sich allein mit Sozialplänen beschäftigen. Mehr billigt ihnen das Betriebsverfassungsgesetz nicht zu. Nach dem 3. Oktober 1990 sind sie zusammen mit den Belegschaften der Lausitzer Kraftwerke endgültig in der Marktwirtschaft angekommen.


Gute Argumente sind das beste Geschenk

Legen Sie einen Gutschein vom digitalen Freitag ins Osternest – für 1, 2 oder 5 Monate.

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden