Um Verzicht zu üben, bräuchten Beschäftigte keine Gewerkschaft – so heißt es in einem Sammelbändchen von vor zehn Jahren aus dem VSA-Verlag. Geschrieben hat den Satz die Verdi-Vizevorsitzende Andrea Kocsis. Das Buch war damals wegweisend für das, was man später „gewerkschaftliche Erneuerung“ nannte: Nachdem die Gewerkschaften in zwei Jahrzehnten neoliberaler Politik eine Niederlage nach der anderen hatten einstecken müssen, machte sich langsam die Erkenntnis breit, dass sie ohne entschiedenen Kampf aus dem Tal nicht wieder herauskommen würden. Und dass dies nur möglich wäre, wenn sie ihre Mitglieder stärker beteiligen und aktiv organisieren würden.
Die Losung „Organisieren am Konflikt“ war aber au
ar aber auch umstritten und ist es bis heute. Kürzlich hat die Süddeutsche Zeitung das Büchlein als Beleg dafür präsentiert, dass Andrea Kocsis den aktuellen Konflikt bei der Post nur eskaliere, um neue Mitglieder für Verdi zu werben. Der Text lese sich „stellenweise wie ein Drehbuch“ für den Arbeitskampf, in dem die Verdi-Mitglieder zur Urabstimmung über das von den Arbeitgebern vorgelegte Angebot aufgerufen waren. 85,9 Prozent lehnten es ab. „Die Deutsche Post AG steht jetzt in der Verantwortung, durch eine deutliche materielle Verbesserung des abgelehnten Angebots einen unbefristeten Streik abzuwenden“, sagte Kocsis. Die Verdi-Forderung: Einen einjähriger Tarifvertrag mit 15 Prozent mehr Lohn.Als Briefträgerin in den BetriebsratSeit 2007 leitet die 1965 in Mülheim an der Ruhr geborene Kocsis bei Verdi den Bundesfachbereich Post, Speditionen und Logistik. Nach dem Abitur studierte sie Sozialarbeit, Romanistik, Anglistik und Germanistik in Essen und Duisburg. 1991 begann sie als Briefträgerin bei der Post zu arbeiten, die damals noch Deutsche Bundespost hieß. Kocsis trat der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) bei und wurde in den Betriebsrat im Düsseldorfer Postamt 30 gewählt. Es war die Zeit der großen Postreformen, in deren Zuge die ehemalige Bundesbehörde bis Mitte des Jahrzehnts privatisiert und in mehrere Aktiengesellschaften aufgespalten wurde – neben der Deutschen Post AG auch Telekom und Postbank.Wie viele Bereiche des Dienstleistungssektors, für die Verdi zuständig ist, hat sich die Zustelllogistik seit 1990 grundlegend gewandelt. Die komplette Branche wurde nach neoliberalen Prinzipien reorganisiert entlang der Bedürfnisse der Finanzmärkte. Die Gewerkschaften waren auf diesen Orkan in keiner Weise vorbereitet, schon gar nicht die Deutsche Postgewerkschaft. Die DPG wies zwar einen hohen Organisationsgrad auf, aber eine Kampfgewerkschaft war sie definitiv nicht und nahm kaum wahr, welche Prekarisierungstreiber sich da breitmachten.2001 wurde Kocsis hauptamtliche Gewerkschaftssekretärin bei der DPG, die in jenem Jahr zusammen mit vier anderen Gewerkschaften die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Verdi gründete. 2005 übernahm Kocsis die Landesfachbereichsleitung in NRW, 2007 wurde sie in den Bundesvorstand gewählt.Unbefristeter Post-Streik 20152015 hat Andrea Kocsis bei der Deutschen Post schon einmal einen unbefristeten Streik geführt. Die Post plante, einen Teil ihrer befristet Beschäftigten, die bislang nach Haustarifvertrag bezahlt worden waren, in neu gegründete Tochtergesellschaften ohne Tarifbindung auszulagern. Dies zu verhindern, war juristisch nicht so einfach, da das deutsche Streikrecht keine Arbeitskämpfe gegen unternehmerische Entscheidungen erlaubt. Verdi musste also einen legalen Weg finden. Um Druck auf die Post auszuüben, forderte die Gewerkschaft eine Verkürzung der Arbeitswoche von 38,5 auf 36 Stunden. Ab Mitte Mai ging Verdi ohne Urabstimmung über Warnstreiks zum Erzwingungsstreik über. Ende Juni waren mehr als 30.000 Beschäftigte im unbefristeten Ausstand. Ein Problem für viele war damals, dass sie als Geringverdiener trotz Streikgeld schnell in finanzielle Nöte gerieten.Die Post schickte Verwaltungskräfte in die Brief- und Paketzustellung, holte Konzernbeschäftigte aus Polen und den Niederlanden und setzte massiv Leiharbeitsfirmen und Werkverträge ein, um den Streik zu unterlaufen. Die neu gegründeten Delivery-Töchter selbst konnte die Gewerkschaft nicht bestreiken – deren Beschäftigte wurden vom Unternehmen vielerorts als Streikbrecher eingesetzt. Mehrmals versuchte Verdi vor Gericht, den Einsatz von Beamten während des Streiks zu untersagen, das blieb erfolglos.Haustarifvertrag und OutsourcingDer Streik endete Anfang Juli mit einer Einigung auf ein umfangreiches Paket von Lohnerhöhungen und Beschäftigungssicherung. Nicht erreicht werden konnte jedoch die Rückführung der Delivery-Töchter. 2019 wurden diese dann durch die Post selbst wieder eingegliedert, nicht zuletzt, weil es Verdi in vielen Zustellbezirken inzwischen gelungen war, regionale Tarifverträge abzuschließen, die besser waren als der Post-Haustarifvertrag. Ironie der Geschichte, dass die Post nun, angesichts eines drohenden Streiks, erneut mit Outsourcing droht und damit Öl ins Feuer gießt.Der Poststreik von 2015 endete also mit einer gemischten Bilanz. Nicht unterschätzt werden darf aber die dabei gesammelte Kampferfahrung, die bei Zehntausenden Beschäftigten noch präsent ist. Problematisch war, dass es weder am Anfang noch am Ende eine Urabstimmung gab, nicht mal eine Mitgliederbefragung zum Ergebnis, obwohl das bei Verdi damals längst üblich war.Das ist dieses Mal anders gelaufen. Am Freitag sollen die Verhandlungen mit der Post fortgesetzt werden. Gibt es keine Einigung mit dem Unternehmen, geht es in den unbefristeten Streik. Kommt es dazu, ist alles Weitere offen. Dass der Konflikt am Ende doch noch einmal ohne Mitgliederbefragung zum Ergebnis endet, ist eher unwahrscheinlich. „Mitglieder wollen sich beteiligen und mitbestimmen, wenn es um ihre persönlichen und unsere gemeinsamen Interessen geht.“ Der Satz steht in dem eingangs erwähnten Buch von 2013. Auch er stammt von Andrea Kocsis.