Mit Kolleginnen und Kollegen stand ich im Herbst 2020 vor dem Werkstor eines Automobilzulieferers am Rand der Schwäbischen Alb. Das Unternehmen hatte zwei Dutzend Leuten gekündigt. Alle wussten, dass das nur der Anfang war. Betriebsrat und IG Metall versuchten, Widerstand gegen die Entlassungen zu organisieren, aber es war spürbar schwer, die bleierne Apathie zu durchbrechen, die über dem Ganzen lag.
Hier war sie, „die Transformation“. Sie rollte wie ein schicksalhafter Megatrend heran, der den Verbrennungsmotor ins Abseits schieben würde und mit ihm all jene Loser, die daran mitgebaut hatten. Nur ein paar noch nicht klar benannte Auserwählte würden die Reise in eine saubere und smarte Zukunft namens „Elektromobilität“ mitantre
; mitantreten dürfen.Der schwäbische Zulieferbetrieb produzierte Teile für Dieselmotoren, kleine Schaufelrädchen aus Aluminium, die in Turboladern zur Luftverdichtung eingesetzt wurden. Die Prognosen für den künftigen Absatz von Dieselmotoren waren zuletzt mächtig nach unten korrigiert worden. Das Unternehmen tat, was Unternehmen so tun, wenn ihnen sonst nichts einfällt – es schwenkte auf einen rigiden Sparkurs ein.Einer der Betriebsräte erzählte nun eine interessante Geschichte. Ein externer Monteur, der zur Wartung der stillstehenden Aluguss-Verarbeitungsmaschinen in den Betrieb kam, hatte ihm gesagt: „Leute, warum sind eure Maschinen nicht ausgelastet? Damit kann man doch diese und jene Komponenten für Elektroantriebe herstellen, das ist jetzt ein Riesenmarkt. Bei Firma Sowieso laufen dieselben Maschinen auf Hochtouren.“Der Witz war, dass der Servicetechniker spontan mehr Zukunftsvision auf der Tasche hatte als die ganze hoch bezahlte Vorstandsetage des Automobilzulieferers nach monatelangen Krisensitzungen. Der Monteur, der tagtäglich dieselbe Art von Spezialmaschinen in unterschiedlichsten Unternehmen wartete und reparierte, hatte das, was die Industriesoziologie „Produzentenwissen“ nennt. Die Strategen im Vorstand hatten dagegen keine Ahnung und folgten einfach ihrem ersten Impuls, und der hieß: Wir müssen Leute loswerden.Klischees der KlimabewegungEs gibt bei dieser Geschichte leider keine glückliche Wendung: Ein Dreivierteljahr später gibt es immer noch kein alternatives Produktionskonzept, stattdessen wurden weitere 150 Beschäftigte entlassen. Ihr Schicksal steht beispielhaft für die Fantasielosigkeit der deutschen Automobil- und Zulieferindustrie angesichts der Herausforderungen einer klimagerechten Verkehrswende. Aber auch dafür, wie schwer sich Betriebsräte und IG Metall dabei tun, die Kreativität der Beschäftigten zu mobilisieren, eigene Zukunftskonzepte zu entwickeln und offensiv dafür zu streiten.In den verschiedenen Erzählungen, die wahlweise als „Transformation“, „Verkehrswende“ oder „sozial-ökologischer Umbau“ der Automobilindustrie deklariert werden, spielen die Beschäftigten bislang keine große Rolle – es sei denn als Opfer oder Blockierer. Dass sie selbst mit ihrem Erfahrungswissen, technologischem Know-how und organisatorischen Fähigkeiten aktiv mitgestalten könnten, wo die Reise hingeht, kommt in den Unternehmensführungen kaum jemandem in den Sinn. Das ist insofern nicht überraschend, als die deutschen Metallarbeitgeber ihre Belegschaft ja auch bei anderen Fragen nicht miteinbeziehen und schon beim Anspruch auf ein paar Tage Homeoffice den Ausbruch der Anarchie wittern.In weiten Teilen der Klimabewegung allerdings hält sich hartnäckig die Vorstellung, es seien die Beschäftigten klimaschädlicher Industrien – ob Kohlebergbau, Kraftwerkstechnik oder Autoindustrie –, die um jeden Preis an ihren oftmals vergleichsweise gut bezahlten Arbeitsplätzen festhalten wollten, ganz nach dem Motto „und nach uns die Sintflut“.Aber ist das tatsächlich so? Betrachtet man die industriesoziologische Forschung, fällt eine große Leerstelle auf. Was die Beschäftigten in den am stärksten vom Umbruch betroffenen Industrien über Themen wie Mobilitätswende, Transformation und Klimawandel denken, ist weitgehend unbekannt. Um das zu ändern, habe ich gemeinsam mit dem ehemaligen VW-Betriebsrat Stephan Krull und meinem Journalistenkollegen Johannes Schulten im vergangenen Jahr Dutzende Interviews mit Beschäftigten von Automobilherstellern, Zulieferunternehmen, aber auch Beschäftigten der Bahnindustrie geführt, um ihre Perspektive auf den Strukturwandel einzufangen. Das Ergebnis, das demnächst als Studie bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erscheinen wird, zeigt: Die Sicht der Beschäftigten in den Betrieben und an der Basis der IG Metall ist viel differenzierter, als es die durch Einlassungen von Gewerkschafts- und Betriebsratsspitzen sowie der Regierung geprägte öffentliche Meinung nahelegt.„Wir haben immer gefordert: ‚Geht endlich auf die neuen Antriebstechnologien‘“, sagte uns ein Beschäftigter eines baden-württembergischen Autoherstellers. „Aber es ist einfach nichts passiert. Weil: Solange die ihre Kohle noch anders machen können, ändern die nichts.“ Belegschaften und Gewerkschaftsmitglieder sind keine Bastion von Verfechtern einer vorökologischen Industriepolitik. Im Gegenteil: Hier finden sich jede Menge Potenziale und Anknüpfungspunkte für eine sozial-ökologische Mobilitätswende. Diese zeigen sich sowohl in einer weitverbreiteten Sensibilität für die ökologischen Folgen der Automobilproduktion als auch in einer sinkenden Identifikation mit „ihren“ Unternehmen, insbesondere im Zuge von „Dieselgate“ und des lange verschleppten Einstiegs in die Elektromobilität.Wieder Fahrräder bauen?Zugleich werfen die Interviews ein Schlaglicht auf die Hindernisse, die der Zukunft im Wege stehen. So gibt es verbreitete Skepsis, ob „die Politik“ einen auch nur halbwegs adäquaten Ausbau des Schienenverkehrs, des ÖPNV oder gar von innovativen, vernetzten Mobilitätssystemen ernsthaft in Angriff nehmen wird: „Jeden Tag, wenn wir im Stau stehen, sehen wir die Baugrube von Stuttgart 21“, sagte ein Daimler-Arbeiter. „Das fühlt sich einfach nicht nach Verkehrswende an.“Praktisch alle Interviewten zeigten nicht nur ein tiefes Verständnis von den Produktionstechnologien, Fabrikabläufen und Produkten, sondern zugleich auch eine hohe Sensibilität für die gesellschaftlichen und ökologischen Konsequenzen des „Automobilismus“. Einigermaßen überraschend war etwa, dass die Mehrheit der Befragten ganz und gar kein Fan von Instrumenten wie der „Abwrackprämie“ war. Vor einem Jahr hatten Spitzenfunktionäre von IG Metall und Automobilbetriebsräten die SPD deshalb scharf angegriffen, weil sie sich in der Großen Koalition gegen eine solche Prämie ausgesprochen hatte. Während das Thema medial über Wochen in den Schlagzeilen blieb, war es nach Auskunft der Interviewten in den Belegschaften „kein Aufreger“.Zwar sprach sich eine Minderheit unter den Befragten für eine Kaufprämie für die modernsten und schadstoffärmsten Verbrenner als „Übergangslösung“ aus. Die meisten lehnten solche Kaufanreize aber als „rückwärtsgewandt“ ab. So etwa der IG-Metall-Vertrauensmann eines baden-württembergischen Automobilherstellers, der überzeugt war, eine solche Kaufprämie würde „den notwendigen Umbau der Automobilindustrie noch mehr verlangsamen“. Ohnehin sei es gesellschaftlich nicht vertretbar, der Branche „noch mehr Subventionen“ hinterherzuwerfen.Nun ist es nicht so, dass in den Fabriken oder gewerkschaftlichen Gremien ständig Diskussionen über Alternativen zur herkömmlichen Produktion stattfinden. Ideen gibt es allerdings schon. So etwa bei einem süddeutschen Autohersteller, der vor vielen Jahrzehnten mal Weltmarktführer beim Bau von Fahrrädern war. „Der Wunsch, das mal wieder aufzunehmen, kommt in der Belegschaft immer wieder auf“, berichtet eine Angestellte. Das wäre wahrscheinlich ja auch ohne Weiteres möglich. „Technologisch können wir alles machen, was es in der Metall- und Elektroindustrie gibt“, sagt ein Betriebsrat eines großen Produktionsstandortes bei Stuttgart. „Wir haben bei uns im Werk sogar schon Schienenfahrzeuge gebaut.“ Diese Möglichkeiten gibt es allerdings nicht überall: Manche Betriebe, vor allem einige Zulieferer, sind hochgradig spezialisiert und nicht so einfach auf Alternativen umzustellen.Die meisten der Interviewten vermissen aber Diskussionsräume zur Entwicklung solcher Ideen. Betriebsräten und gewerkschaftlichen Gremien in den Betrieben fällt es sichtlich schwer, autonome, vom Management unabhängige Strategien in den betrieblichen Transformationsauseinandersetzungen zu entwickeln – obwohl sie dies zugleich für nötig halten. „Wir als Betriebsrat sind nur noch getrieben“, beschreibt ein Kollege das Dilemma. „Wir reagieren nur noch auf das, was der Arbeitgeber uns hinschmeißt. Wir kommen nicht in die Offensive.“Von ihrer Gewerkschaft fühlen sich viele Beschäftigte dabei oft alleingelassen, wünschen sich mehr Unterstützung und inhaltliche Orientierung. Initiativen wie der 2019 von der IG Metall erstellte „Transformationsatlas“, ein Versuch, Risiken und Potenziale der Strukturwandels flächendeckend in den Betrieben zu erfassen, werden begrüßt, hinterlassen aber Ratlosigkeit, wenn sie nicht in eine erkennbare Gesamtstrategie eingebunden sind: „Ja, das war prinzipiell keine dumme Idee“, meint eine Kollegin. „Schön, dass man es gemacht hat. Aber was ist jetzt?“Alles in allem zeigen unsere Interviews, dass es sowohl unter der Facharbeiterschaft als auch unter den Angestellten ein reflektiertes und kritisches Bewusstsein für die Folgen der auf die Massenproduktion meist großer und schneller Autos ausgerichteten Geschäftsmodelle ihrer Unternehmen gibt. „Wir haben keinen zweiten Planeten im Kofferraum“, sagte der Betriebsratsvorsitzende eines großen Pkw-Werks in Hessen. Alle Interviewten machen sich Gedanken darüber, wie die Ökobilanz ihrer Betriebe angesichts von Klimawandel, endlichen Ressourcen und einer problematischen Pkw-Dichte in Ballungsräumen verbessert werden kann.Dies ist zweifellos eine gute Voraussetzung für eine sozial-ökologische Transformation. Deutlich wurde aber auch: Das Problem kann nicht auf betrieblicher Ebene gelöst werden. Es braucht einen politischen Masterplan, eine Vision für ein sozial gerechtes, ökologisches Verkehrsmodell der Zukunft. Tatsächlich gibt es dafür eine Blaupause: die Energiewende. Die hat in der Realität besser funktioniert, als viele Kritiker meinen.So wie es ein Erneuerbare-Energien-Gesetz, ein Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz und ein Atom- und Kohleausstiegsgesetz gibt, bräuchte es auch ein Verbrennungsmotor-Ausstiegs- und ein ÖPNV-Förderungsgesetz. Klar ist aber auch: Ohne eine breite gesellschaftliche Bewegung, die Druck in diese Richtung entfaltet, wird nichts passieren. Die IG Metall hätte das Potenzial, Protagonistin einer solchen Bewegung zu sein. Sie muss nur über ihren eigenen Schatten springen.Placeholder authorbio-1
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