„Die Arbeitgeber mussten auf uns eingehen“, sagt Sevgi. „Sonst hätten die Leute scharenweise gekündigt.“ Seit 2013 arbeitet die 44-Jährige im Terminal des Flughafens Düsseldorf für eine große Gebäudereinigungsfirma. „Ob sie das allerdings von selbst eingesehen hätten?“, fügt sie hinzu und lacht: „Wer weiß! Jedenfalls haben wir ihnen das deutlich klar gemacht.“
Während die größte deutsche Industriegewerkschaft, die IG Metall, eben erst ihre Tarifrunde damit begonnen hat, acht Prozent mehr Entgelt in der Metall- und Elektroindustrie zu fordern, haben ausgerechnet die Beschäftigten in der Gebäudereinigung – einer Branche mit extrem schlechter Bezahlung und prekären Arbeitsbedingungen – unbemerkt von der Öffentlichkeit bereits im Sommer eine Lohnerhöhung von 12,5 Prozent erstritten. Der Abschluss zeigt, dass auch im Niedriglohnsektor gewerkschaftliche Erfolge möglich sind – wenn man es richtig anpackt.
Erst mal einen Betriebsrat
Es brodelte schon länger unter den Reinigungskräften. Und sie haben auch nicht erst in dieser Tarifrunde begonnen, sich zu organisieren. 2020, mitten in der Pandemie, leiteten Sevgi und ihre Kolleginnen eine Betriebsratswahl ein. Der Flugverkehr stockte wegen Corona, die Einnahmen des Flughafens sanken. Der gab den Spardruck weiter in die Nahrungskette der Dienstleister. Aber auch wenn weniger geflogen wurde – gereinigt werden musste trotzdem: „Gerade in der Pandemie kam es ja nun besonders auf Hygiene an“, sagt Sevgi. Nur: Wo vorher 130 Leute putzten, sollten jetzt auf einmal 60 ausreichen. „Das war eine Katastrophe.“
Wo es keinen Betriebsrat gibt, legt der Arbeitgeber Schicht- und Dienstpläne im Alleingang fest. Gibt es einen Betriebsrat, kann er mitbestimmen. Also entschlossen sich die Beschäftigten, einen zu wählen, und weil sie es gleich richtig machen wollten, baten sie die Gewerkschaft um Unterstützung.
„Das sind mutige Frauen“, sagt Mahir Sahin. Er ist Gewerkschaftssekretär bei der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt – IG BAU –, die deutschlandweit Beschäftigte in der Gebäudereinigung organisiert. Rund 700.000 Menschen, überwiegend Frauen mit Migrationshintergrund, arbeiten in der deutschen Reinigungsbranche, der größten und umsatzstärksten in Europa. Offiziell gilt Gebäudereinigung als „Handwerk“, faktisch ist es längst eine hochspezialisierte Industrie, dominiert von Dienstleistungskonzernen wie WISAG, Gegenbauer und Piepenbrock mit Zehntausenden Mitarbeitern, geprägt aber auch von intransparenten Subunternehmernetzwerken, prekären Arbeitsbedingungen und hoher Fluktuation.
„Wir schwitzen nicht für Mindestlohn!“, stand auf den Zetteln, die Mahir und Sevgi im Frühsommer unter den Kolleginnen verteilten. Damals war die Aussicht so: Im Oktober würde der gesetzliche Mindestlohn von bislang 9,82 auf zwölf Euro brutto steigen. Damit wäre der bisherige Branchenmindestlohn in der Gebäudereinigung von 11,55 Euro obsolet. „Es musste etwas passieren“, sagt Mahir. „Und das konnte nur heißen: Der Lohn muss deutlich über zwölf Euro angehoben werden.“
Mit einer „Blitzumfrage“ wollte die IG BAU die Stimmung unter den Beschäftigten einfangen – nicht nur am Flughafen Düsseldorf, sondern bundesweit, an Flughäfen, in Krankenhäusern, öffentlichen Verwaltungen, Großbetrieben. „Würdest du zu einem weniger anstrengenden Job wechseln, wenn dein Arbeitgeber ab Oktober 2022 nur den gesetzlichen Mindestlohn zahlt?“ Innerhalb weniger Tage beteiligten sich Zehntausende, und das Ergebnis war eindeutig: Wenn die Firmen die Löhne nicht deutlich anhöben, riskierten sie Massenkündigungen.
Mit unkonventionellen Methoden Beschäftigte zu mobilisieren, die aufgrund von Sprachbarrieren und prekären Arbeitsbedingungen als schwer organisierbar gelten, hat eine lange Tradition in der Gebäudereinigersparte der IG BAU. Die Organisation setzte schon auf „aktivierende Gewerkschaftsarbeit“, bevor Verdi und IG Metall ihre ersten zaghaften Versuche im „Organizing“ unternahmen. 2011 machte sich die Gewerkschaft daran, die Reinigungskräfte im Frankfurter Bankenviertel zu organisieren, und verfolgte dabei einen für Deutschland völlig neuen Ansatz: Nicht die Reinigungsfirmen wurden ins Visier von Aktionen genommen, sondern deren Auftraggeber – Großbanken und Business-Hotels. Mit ihrem Blog „Sauberkeit-braucht-Zeit.de“ war sie auch eine der ersten Gewerkschaften, die das Internet gezielt für die Kommunikation betrieblicher Basisaktionen nutzte.
„Als wir von dem Abschluss erfuhren, jubelten die Leute“, berichtet Sevgi. „Natürlich ist das eine echte Entlastung für sie. Und sie wissen, dass sie es gemeinsam erreicht haben. Geschenkt wurde uns gar nichts.“ Allerdings: Die Inflation ist inzwischen so hoch, dass der Reallohnzuwachs zum größten Teil schon wieder weg ist.
Und die Inflation ist nicht das einzige ungelöste Problem. Eine Lohnerhöhung durchzusetzen ist nicht einfach, aber wenn Belegschaften ausreichend organisiert und kampfbereit sind, im Prinzip möglich. Aber wie erkämpft man sich Respekt? Beim eigenen Arbeitgeber wird er sich vielleicht nach einem erfolgreichen Arbeitskampf einstellen. Aber was ist mit Fluggästen, die die Reinigungskräfte herablassend behandeln? Das ist schwerer zu ändern. Oder der steigende Arbeitsdruck. Seit Jahren spielen Unternehmen in der Gebäudereinigung das gleiche Spiel: Steigt der Lohn, erhöhen sie die Flächenvorgaben oder reduzieren das Personal. „Vor der Pandemie hatten wir vier Leute, um die Abflughalle zu reinigen, jetzt sind wir nur noch zu zweit“, berichtet Sevgi. Dagegen vorzugehen ist für Gewerkschaften viel schwieriger, als eine Lohnerhöhung durchzusetzen.
Noch komplizierter wird es bei den unzähligen Ungerechtigkeiten und Demütigungen, die der Struktur des neoliberalen Dienstleistungskapitalismus selbst eingeschrieben sind. Von den Reinigungskräften am Flughafen wohnt niemand im teuren Düsseldorf. Die Leute pendeln aus Gelsenkirchen und dem ganzen Ruhrpott hierher. Weil der öffentliche Nahverkehr teuer und schlecht ist, kommen sie mit dem Auto. Aber es gibt keine extra Parkplätze für die Beschäftigten. Sie müssen von ihrem Niedriglohn die Gebühr für eine Dauerparkkarte bezahlen. Die kostet – mit Beschäftigtenrabatt – immer noch 40 Euro, keine Kleinigkeit für schlecht bezahlte Reinigungskräfte. Und dann geht die Sucherei los: „Manchmal kurve ich hier eine Stunde umher, um einen Parkplatz zu finden“, sagt Sevgi. Eine Stunde, die sie nacharbeiten muss, weil ihr Arbeitgeber ihr keinen Parkplatz zur Verfügung stellen kann.
Hier stößt gewerkschaftliche Aktivität an ihre Grenzen – zumindest in ihren traditionellen Formen wie der Tarifpolitik. All die dysfunktionalen Strukturen aus Subunternehmerketten, Fremdvergaben, aufgeblähten Controlling-Bürokratien voller Bullshit-Jobs auf der einen Seite und Personalmangel auf Seiten all jener, die die Arbeit erledigen müssen – die Liste ließe sich seitenlang fortschreiben. Auf den Wahnsinn der spätkapitalistischen Arbeitswelt strategische Antworten zu finden: Das ist die gewerkschaftliche Mammutaufgabe der nächsten Jahre.
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