Zwei große Tarifrunden liegen in diesem Jahr bereits hinter uns: Metall- und Elektroindustrie sowie öffentlicher Dienst. Mitte Februar einigten sich IG Metall und Arbeitgeber in Baden-Württemberg auf einen Abschluss, der Lohnerhöhungen um 4,3 Prozent und ein Recht auf befristete individuelle Arbeitszeitverkürzung mit einem Teillohnausgleich für bestimmte Beschäftigtengruppen vorsieht. Der von 1,5 Millionen Metallern und Metallerinnen erkämpfte neue Tarifvertrag gilt für 3,9 Millionen Beschäftigte und geht merklich über die Standards der Abschlüsse der letzten Jahre hinaus. Ein Einstieg in eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung ist damit allerdings nicht verbunden – auch wenn dies in der Öffentlichkeit teilweise so wahrgenommen wurde.
Im öffentlichen Dienst einigten sich Verdi, Bund und Kommunen im April auf eine Entgelterhöhung von 7,5 Prozent bis März 2020 für 2,3 Millionen Beschäftigte, was aufs Jahr gerechnet auf drei Prozent hinausläuft und ebenfalls deutlich über den Abschlüssen vergangener Jahre liegt. Nicht durchgesetzt wurde die gewerkschaftliche Forderung nach einem Sockelbetrag für die unteren Lohngruppen: Hatte Verdi anfangs eine Mindesterhöhung von 200 Euro monatlich für alle gefordert, blieb am Ende nur eine Einmalzahlung von 250 Euro übrig.
Beide abgeschlossenen Runden markieren eine noch zaghafte, aber doch erkennbare gewerkschaftliche Neuorientierung hin zu einer offensiveren Tarifpolitik. Insgesamt wäre es aber verfrüht, darin die Initialzündung für eine verteilungspolitische Wende zu sehen. Zu tief haben sich die strukturellen Veränderungen der Arbeitsbeziehungen nach einem Vierteljahrhundert neoliberaler Politik in die gesellschaftliche Matrix eingebrannt. Insofern liegen die entscheidenden Schlachten einerseits hinter, anderseits vor uns – aber jedenfalls nicht in der Gegenwart.
Tschüss, Tarifbindung
Insgesamt verhandeln die DGB-Gewerkschaften im laufenden Jahr neue Vergütungstarifverträge für mehr als 9,7 Millionen Beschäftigte. Das sind eine Million mehr als im Vorjahr, was aber ganz und gar kein Indiz für eine steigende Tarifbindung ist. Im Gegenteil: Die Zahl ist Teil des Problems, denn für mehr als zwei Drittel der insgesamt 32,7 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten wird es auch in diesem Jahr keine Tarifverhandlungen geben. Jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis ist mittlerweile „atypisch“, sei es in oft unfreiwilliger Teilzeit, Leiharbeit oder mit befristetem Vertrag. Die Tarifbindung verliert seit mindestens zwei Jahrzehnten an Bedeutung: Lag sie 1996 im Westen der Republik noch bei 70 Prozent und im Osten bei 56 Prozent der Beschäftigten, ist sie zwanzig Jahre später auf 51 beziehungsweise 36 Prozent abgeschmolzen. Entsprechend wachsen die Einkommensunterschiede unter den Lohnabhängigen – die Lohnspreizung nimmt seit den 90ern in Deutschland stetig zu. Auch der 2015 eingeführte allgemeine gesetzliche Mindestlohn hat daran wenig geändert.
Bei den noch anhängigen oder bevorstehenden Tarifrunden dieses Jahres sind keine Durchbrüche zu erwarten, die die vorherrschende Verteilungsungerechtigkeit in Deutschland grundlegend aufmischen. Aktuell in der Schlichtung befindet sich die IG Bau, die für die rund 800.000 Beschäftigten des Bauhauptgewerbes sechs Prozent mehr Lohn fordert – das Ergebnis wird weit davon entfernt sein. Parallel hat dieselbe Gewerkschaft ein weiteres schwieriges Feld zu bestellen: Anfang Juni werden die Verhandlungen für das Gebäudereinigerhandwerk fortgesetzt. Mit Glück wird das Ergebnis besser ausfallen als beim Abschluss der IG Bau für die Beschäftigten in der Landwirtschaft vom Dezember 2017, bei dem 30 Nullmonate rückwirkend bis Mitte 2015 und moderate Lohnsteigerungen für die Jahre 2018 bis 2020 vereinbart wurden. Ähnlich schwierig ist die Lage für die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten, die im März einen Abschluss für die Beschäftigten der Süßwarenindustrie Ost hinlegte, der ab Januar die Entgelte um 2,5 Prozent steigen lässt, oder die Situation von Verdi im privaten Verkehrsgewerbe, wo die Löhne in den Speditionen in Berlin und Brandenburg ab April nach drei Nullmonaten um 2,8 Prozent steigen.
Alles in allem schaffen es die Gewerkschaften trotz ihrer Anstrengungen immer weniger, dem Auseinanderklaffen bei der Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts entgegenzuwirken. Selbst in den hoch organisierten Branchen, wie der Metall- und Elektroindustrie, wird allenfalls der verteilungsneutrale Spielraum – Inflation plus Produktivitätsgewinn – ausgeschöpft. Wenn er – worüber man streiten kann – wie in diesem Jahr vielleicht sogar moderat überboten wurde, ist dies angesichts der unvermindert fortschreitenden Verteilungsungerechtigkeit kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Auch in der gewerkschaftlich hoch organisierten Leitindustrie Metall und Elektro ist mittlerweile jeder dritte Arbeitsplatz „atypisch“ und steht außerhalb der Geltung der Kerntarifverträge, ist über Leiharbeits- oder Werkvertragsfirmen organisiert. Nicht besser sieht es beim ehemaligen Musterarbeitgeber Staat aus.
Befinden sich die Gewerkschaften also in einer Lage wie die bedauernswerten Geschöpfe aus Alice im Wunderland, die auf einem Laufband immer schneller laufen müssen, um bestenfalls nicht zurückzufallen – was dann in der Regel natürlich dennoch ihr Schicksal ist? Grundsätzlich ja. Aber es gibt auch Elemente, die zeigen, wie sich das Kräfteverhältnis ändern lassen könnte. So der von vielen als chancenlos belächelte Arbeitskampf Verdis bei Amazon: Fünf Jahre dauert die Auseinandersetzung an, und immer noch ist kein Durchbruch in Sicht, doch der Organisationsgrad und die Kampferfahrung, Streikfähigkeit und internationale Vernetzung der Kämpfe wachsen real. Seit zehn Jahren ist die IG Metall dabei, konfliktorientierte Organizing-Konzepte in ihre Strategie zu integrieren – mit wachsendem Erfolg, auch wenn das vom medialen Mainstream bislang nicht wahrgenommen wird. Krankenschwestern und -pfleger gewinnen bundesweit Terrain im Streit für eine bessere Personalausstattung an Krankenhäusern – mit politischen Streiks, auch wenn sich bislang niemand traut, die Dinge beim Namen zu nennen. Diese Versuche mögen heute bescheiden erscheinen. Und doch: Relevante Teile der neuen Arbeiterinnenklasse organisieren sich, treten in Auseinandersetzungen, und manchmal gewinnen sie sogar. Die reale Verschiebung der Kräfteverhältnisse wird eher aus dieser Richtung kommen als aus den Strategieabteilungen der Zentralen.
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