Silvia Habekost ist Anästhesieschwester, sie spricht ruhig und freundlich. Doch was sie sagt, ist echter Sprengstoff. „Entweder sie nehmen zumindest Verhandlungen auf oder wir werden noch vor den Wahlen in den Streik treten.“ Habekost arbeitet im Vivantes-Klinikum Berlin-Friedrichshain. Das ist nicht bloß verbales Säbelrasseln, wie es Gewerkschaften öfters vor Tarifrunden absondern. Sondern ein Anzeichen, dass sich auf dem Arbeitsmarkt gerade etwas grundlegend verändert.
Vier Wochen vor der Berliner Superwahl – Bundestag, Abgeordnetenhaus und Volksentscheid zur Enteignung von „Deutsche Wohnen & Co.“ – lief das Ultimatum der „Berliner Krankenhausbewegung“ aus. Schon das ist ein Novum: Seit Frühjahr organisieren sich die nichtärztlichen Beschäftigten im landeseigenen Krankenhauskonzern Vivantes, in Europas größtem Uniklinikum, der Charité, und in ihren diversen outgesourcten Töchtern. Ihnen geht es gar nicht in erster Linie ums Geld, sondern um Arbeitsbedingungen und Gerechtigkeit. Sie fordern eine bessere Personalausstattung. Und sie fordern „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“: Die Beschäftigten der zahlreichen, in den vergangenen Jahren ausgegliederten Tochtergesellschaften, sollen – genau wie die Kernbelegschaften – nach dem Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes (TVöD) bezahlt werden. Es geht um Lohnunterschiede von teilweise mehreren hundert Euro, für dieselben Tätigkeiten. „Hundert Tage haben wir dem Senat und den Arbeitgebern Zeit gegeben, mit uns über Verbesserungen zu verhandeln“, sagt Silvia Habekost. Doch trotz „unzähliger Gespräche“ sei man „keinen Schritt weitergekommen“. Also folgt die nächste Stufe der Eskalation: Die Krankenhausbewegung ruft zu einem dreitägigen Warnstreik ab dem 23. August auf, wogegen die Vivantes-Leitung versucht, den Streik gerichtlich zu untersagen, was ihr bisher teilweise gelingt.
Die sich hier organisieren, sind jene, die in der Pandemie die Hauptlast der klinischen Versorgung der Berliner Bevölkerung trugen. Es sind die, die im Frühjahr 2020 von den Balkonen beklatscht wurden: Danke, ihr seid systemrelevant! Jetzt, wo ihnen die Gesellschaft echte Anerkennung zurückgeben könnte, ist das Interesse verhalten. Aber das könnte sich bald schon ändern. Denn die Sache wird ernst.
Spätestens als sich Mitte Juli über tausend Charité- und Vivantes-Beschäftigte – gewählte Delegierte der Teams auf den Stationen – in der Alten Försterei, dem Fußballstadion des 1. FC Union in Berlin-Köpenick, trafen, um ihre Forderungen zu formulieren und eine Strategie für den anstehenden Arbeitskampf zu entwerfen, hätten bei Krankenhausmanagern und der Berliner SPD-Gesundheitssenatorin alle Warnleuchten rot blinken müssen. Stattdessen steckten die den Kopf in den Sand.
Vorboten einer Streikwelle?
So steht nun nach dem Beginn des Lokführerstreiks der GDL der nächste große Arbeitskampf ins Haus. Klar ist: Silvia Habekost und ihre Kolleginnen und Kollegen wollen sich nicht mit Almosen zufriedengeben. Egal, ob es eine schnelle Lösung gibt oder sich der Konflikt hinzieht: Die Krankenhausbeschäftigten in ganz Deutschland werden sehr genau verfolgen, was in Berlin vor sich geht. Macht das Beispiel Schule, könnte passieren, was Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) seit Beginn der Coronapandemie verspricht, aber nicht umsetzt: Eine Wende hin zu echten Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in der Pflege.
Der Zeitpunkt ist günstig, aus verschiedenen Gründen. Zwei Jahrzehnte „Ökonomisierung“ des Gesundheitswesens haben die Arbeit in den Krankenhäusern derart verdichtet, dass in den vergangenen Jahren immer mehr Pflegekräfte ihren Beruf entnervt oder ausgebrannt verlassen haben. Mittlerweile ist der Personalmangel so drastisch, dass sich Krankenhausbetreiber anstrengen müssen, überhaupt Leute zu finden oder zu halten. Also verschiebt sich das Machtgleichgewicht: Weg von den Arbeitgebern, hin zu den Beschäftigten.
Ein derartiger Trend ist nicht nur im Gesundheitssektor zu beobachten, in manchen Sektoren herrscht schon länger Personal- und „Fachkräftemangel“. Doch jetzt verbinden sich langfristige Trends mit kurzfristigen Entwicklungen, die Wirtschaft erholt sich, aufgeschobener Konsum führt zu einem kleinen Post-Corona-Boom. Die Frage ist: Führt das auch zu einer „neuen Macht der Beschäftigten“? Sind die Bewegung im Gesundheitswesen und Kampfbereitschaft bei den Lokführern gar Vorboten einer neuen Welle von Arbeitskämpfen?
In den USA jedenfalls ist genau das schon seit mehreren Monaten zu beobachten. „Angespannter Arbeitsmarkt lässt amerikanische Arbeiter Oberhand gewinnen“, schrieb das Wall Street Journal Ende Juni. „Der Arbeitsmarkt entwickelt sich zugunsten der Arbeiter, speziell der ‚blue collar workers‘, und zwar in zunehmendem Maße“, zitiert das Blatt Becky Frankiewicz, Präsidentin von ManpowerGroup, einer der drei größten Personalvermittlungs- und Leiharbeitsfirmen weltweit. „Wir haben eine große Nachfrage und nicht genügend Arbeitskräfte.“ Der Lohn, den Unternehmen bieten müssen, um jemanden einzustellen, sei seit Herbst im Schnitt um 10.000 Dollar gestiegen, schreibt die Financial Times unter Berufung auf eine Analyse der US-Notenbank FED.
Die USA sind Europa zeitlich voraus, wohl weil sie jene Maßnahmen der Pandemiebekämpfung, die auch die Wirtschaft lähmten, früher beendet haben. Die Frage ist, ob der Trend in ähnlicher Form auch nach Europa schwappt. Jedenfalls zieht auch hierzulande die Arbeitskräftenachfrage deutlich an, wie die Statistik der Bundesagentur für Arbeit zeigt. Im Juli waren 320.000 Erwerbslose weniger gemeldet als noch vor einem Jahr, zugleich stieg die Zahl der gemeldeten offenen Stellen um 171.000. Trotz Beginn der Sommerpause sinken Erwerbslosigkeit und Unterbeschäftigung, und zwar „kräftig“, wie BA-Chef Detlef Scheele betont: „Die Unternehmen suchen vermehrt nach neuem Personal.“
Von aktuell 33,73 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten geht die Agentur aus – damit wäre das Niveau des Vor-Corona-Jahres 2019 erreicht und knapp überboten. Und nichts deutet darauf hin, dass sich dieser Trend in nächster Zukunft abschwächt, im Gegenteil. Auch wenn Deutschland und Europa nicht mit den Wachstumsraten in den USA und China mithalten können – dass sich die hiesige Wirtschaft im weiteren Jahresverlauf erholen und kräftig wachsen wird, sieht nicht nur der Sachverständigenrat der Bundesregierung so. Aber ändert sich dadurch merklich das Kräfteverhältnis auf dem Arbeitsmarkt? Werden Beschäftigte die Lage zu ihren Gunsten nutzen können?
Ja, meint Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Allerdings sei das ganz klar „die Fortsetzung eines Trends, den wir die 2010er-Jahre hindurch beobachten konnten: Wachsende Arbeitskräftenachfrage, bessere Verhandlungsposition für Arbeitnehmer, steigende Reallöhne“. Anders als im Jahrzehnt davor, den Nullerjahren, die von Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen sowie Prekarisierung geprägt waren – politisch verstärkt noch durch die unter Rot-Grün durchgebrachten Hartz-Gesetze, mit Minijobs, Leiharbeit und Befristungen.
Seit 2005/06 hätten sich die Kräfteverhältnisse langsam zugunsten der Beschäftigten verschoben: „Das führte zu höheren Lohnabschlüssen, aber auch zu neuen Forderungen: Mehr Souveränität über die eigene Arbeitszeit, weniger Arbeitsstress und Ähnliches. Dann kam Corona dazwischen.“ Die Pandemie, so Weber, schlug eine Delle in diese Entwicklung: „Das hat enormen Druck ausgeübt, da hat sich einiges verschlechtert. Wir haben eine Studie erstellt, die zeigt, dass sich deutlich mehr Leute unter ihrer Qualifikation und bereits erreichten Karrierestufe beworben haben.“ Mit der jetzigen Erholung, ist sich der Experte sicher, werden diese Krisenauswirkungen schnell wieder zurückgehen, denn: „Arbeitskraft wird sich in Deutschland weiter verknappen.“
Ein Blick auf den privaten Stellenmarkt scheint das zu bestätigen. Mehr als einer halben Million Angeboten allein bei Ebay-Kleinanzeigen stehen nicht mal 100.000 Jobgesuche gegenüber – ganz oben Produktion, Pflege, soziale Dienste, Gastronomie. „Wir suchen seit ein paar Monaten verzweifelt Fachkräfte in der sozialen Arbeit“, berichtet der Geschäftsführer einer regionalen Gliederung eines großen Wohlfahrtsverbandes. „Die vergangenen Jahre ging das immer irgendwie, aber zurzeit ist es superdünn.“ Und anders als früher hätten die Beschäftigten heute „keinen Schmerz, den Betrieb zu verlassen und sich freudigeren Berufsfeldern zuzuwenden. Oder zu einem Arbeitgeber zu gehen, der mehr zahlt.“
Das bedeutet: Beschäftigte ziehen die richtigen Schlüsse aus den veränderten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt. Sie tun das bis jetzt aber vor allem individuell, jeder für sich alleine: „In gewerkschaftlicher Organisierung drückt sich das bislang null aus“, sagt Enzo Weber. Ob eine verbesserte Position auf dem Arbeitsmarkt eher in individuelle oder kollektive Strategien mündet, hängt offenbar von vielen Faktoren ab und ist je nach Branche und Milieu sehr unterschiedlich. Ähnliches beobachtet Olaf Klenke, Gewerkschaftssekretär bei der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) in der Gastronomie: „Die Leute suchen sich einen neuen, besser bezahlten Job, aber sie treten nicht massenweise bei uns ein.“
Die Macht hat sich verschoben
In der Gastronomie haben die monatelangen Phasen der erzwungenen Schließungen von Bars, Restaurants und Hotels im Lockdown zur Abwanderung von Personal in andere Branchen geführt und damit jetzt, bei der Wiederöffnung, zu besonders krassem Personalmangel. Für Klenke ist das nicht überraschend: Die Branche ist ohnehin geprägt von hoher Fluktuation, Saisongeschäft, kleinbetrieblichen Strukturen. Zur schleppenden gewerkschaftlichen Organisierung sagt er: „Es gibt keinen Automatismus. Wir gewinnen Mitglieder, wo wir Konflikte führen.“ Gibt es eine Handvoll von Aktiven im Betrieb, stehen die Chancen gut. So geschehen in zahlreichen Unternehmen der Lebensmittelindustrie, speziell in Ostdeutschland: „Hier merken wir deutlich, dass sich die Leute nicht mehr abspeisen lassen. Wir haben Zulauf, wir haben eine wachsende Streikbereitschaft, wir setzen Reallohnsteigerungen durch.“ Allerdings ist das auch hier keine ganz neue Erscheinung: „Das hat sich über die vergangenen Jahre aufgebaut. Corona hat uns ein bisschen ausgebremst, aber sobald die Pandemie vorbei ist, wird das wieder Fahrt aufnehmen.“
Tatsächlich gibt es gute Gründe, Tempo zu machen, denn es ist eine Menge nachzuholen. Auch wenn es nicht überall so offensichtlich ist wie im Gesundheitswesen: Die abhängig Beschäftigten haben den Laden während der Pandemie am Laufen gehalten. Erhalten haben sie im Gegenzug dafür nicht viel. Waren die Tariflöhne in den Jahren 2018 und 2019 noch um rund drei Prozent gestiegen, lagen die Neuabschlüsse in der ersten Jahreshälfte 2021 nur noch bei 1,1 Prozent. „Die Tarifauseinandersetzungen seit Frühjahr 2020 standen ganz im Zeichen der Coronakrise“, sagt Thorsten Schulten, Leiter des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Zum ersten Mal seit zehn Jahren konnten die Tarifabschlüsse im Schnitt nicht mal mehr die Inflation ausgleichen – preisbereinigt gibt es hier sogar ein Kaufkraftminus von 0,2 Prozent.
Allerdings, so Schulten: „Die Tarifrunde 2021 ist noch lange nicht zu Ende.“ So stehen mit dem Einzelhandel, dem öffentlichen Dienst der Länder und dem Bauhauptgewerbe Verhandlungen an. Für letztere sieht auch der Vorsitzend der IG Bau, Robert Feiger, „die Chance einer ‚neuen Macht der Beschäftigten‘“. Die Arbeitskräftenachfrage am Bau ziehe spürbar an. „Was aber dann noch folgen muss, ist eine kollektive Organisierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Nur eine höhere Anzahl an Beschäftigten, wo jeder individuell für sich kämpft, führt nicht dauerhaft zu einer neuen Stärke.“
Kommt nun ein heißer Herbst? Wer weiß. Jedenfalls stehen Tarifrunden in Branchen an, in denen die Pandemie den Beschäftigten besondere Leistungen abverlangt hat. Dafür haben sie Anerkennung verdient, auch materiell. Und wenn ihnen die wirtschaftliche Konjunktur und Arbeitsmarktentwicklung dabei in die Hände spielt, umso besser. Sie sollten die Chance nutzen.
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