Kai Lindemann: „Der Neoliberalismus begünstigt die Plünderung des Staates“
Interview Kai Lindemann forscht zu den „Rackets“: Netzwerken, mit denen sich Eliten ihre Macht und ihr Vermögen sichern, ob in Europa, China oder dem Nahen Osten. Wie kann man diese Gemeinschaft der Superreichen verstehen?
Der Politikwissenschaftler Kai Lindemann sieht in der Stärkung von Kollektivrechten ein Gegenmittel gegen Rackets
Foto: Julian Mährlein für der Freitag
Eigentlich dürfte es das nicht geben: Netzwerke, die den Eliten ihren Platz an den Futtertrögen der Macht sichern. Zugleich zeigt jede Enthüllung aus Steueroasen, wie verbreitet sie sind. Doch wie kann man die „Beutegemeinschaften“ der Superreichen verstehen, ob in Europa, Russland oder China? Der Gewerkschafter Kai Lindemann erforscht das Phänomen unter dem Begriff der „Rackets“.
der Freitag: Herr Lindemann, Sie haben ein Buch über „Die Politik der Rackets“ geschrieben. Nun ist der Begriff vielen Menschen in Deutschland nicht geläufig. Was sind eigentlich Rackets?
Kai Lindemann: Ein Racket ist nicht nur ein Tennisschläger. Das Wort bezeichnet im amerikanischen Slang eine Bande, die Schutzgeld erpresst. Ich beziehe mich p
er. Das Wort bezeichnet im amerikanischen Slang eine Bande, die Schutzgeld erpresst. Ich beziehe mich primär auf die fragmentarischen Ausführungen von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zu Beginn der 1940er Jahre. Sie haben das Wort aus der damaligen Debatte um korrupte Gewerkschaftsführer aufgeschnappt. Das Racket taucht entsprechend oft in der gerade neu herausgegebenen Dialektik der Aufklärung auf. Mit der Diskussion der Rackets wollten die emigrierten Philosophen der Frankfurter Schule eine „Theorie der politischen Praxis der herrschenden Klassen“ begründen. Sie ist also nicht nur Kapitalismuskritik, sondern Herrschaftskritik. Die Hauptintention der Racket-Theorie kam aus der fehlgeschlagenen Emanzipation der Arbeiterklasse. Rackets sind weniger eine klar zu definierende Struktur, sie machen sich über ihre herrschende Praxis deutlich, über Verbindungen, Abhängigkeiten und gegebenenfalls sogar Gewaltausübung. Sie gewähren Schutz über Partizipation an der Beute.Können Sie dafür ein aktuelles Beispiel geben?Die Praxis von Rackets wird uns doch tagtäglich vor Augen geführt. Es gibt die Rackets, die Staatshaushalte plündern – zum Beispiel über Steuerbetrug. Man spricht von Staatsvereinnahmung. Die Mitglieder dieser Rackets und ihre Verbindungen zeigen sich in den vielen geleakten „Papers“ – Pandora, Panama und so weiter. Auch die Cum-Ex-Geschäfte offenbaren diese Rackets. In Südafrika ist das ANC-Racket des Zuma-Kartells ein Beispiel für Staatsplünderung. Aber auch die Oligarchensysteme in Osteuropa oder Lateinamerika sind hierfür exemplarisch. Was sie alle verbindet, ist die westliche Beraterindustrie, die bei der Logistik und dem Aufbau dieser Strukturen half. Schließlich gibt es für diese Praxis auch eine neoliberale Theorie, den Rent-Seeking-Ansatz. Dann gibt es die „Revolving Door“-Rackets, die Amtsträgern den Wechsel auf lukrative Posten in der Privatwirtschaft gewähren, wenn sie sich als Komplizen für politische Projekte bewährt haben. Diese gewiss nicht sehr gewaltförmigen Rackets sind in den westlichen Ländern inzwischen Normalität. Weitaus gewaltförmiger sind die kriminellen Rackets. Wir kennen sie als Mafia, Yakuza oder die vielen Maras in Lateinamerika. Aber auch die Milizen in sogenannten „failed states“ sollten hierzu gezählt werden. Es gäbe noch weitere Beispiele für undynamische, nepotistische und feudale Rackets in arabischen Ländern.Sind Rackets eher bestimmte Gruppierungen innerhalb der herrschenden Klasse oder „Beutegemeinschaften“, die quer zur Klassenstruktur stehen? Historisch wurde der Begriff ja in den USA auch benutzt, um etwa die Verquickung von Teilen der Gewerkschaften mit der Cosa Nostra zu beschreiben, wie sie zum Beispiel Jimmy Hoffa senior verkörpert hat.Rackets haben im materialistischen Sinne immer einen Klassen- und einen Staatsbezug. Deshalb haben herrschende Klassen immer die Tendenz, sich aus Rackets zusammenzusetzen. Wenn wir uns nun fragen, warum die subalternen Klassen gegen diese Herrschaftspraxis nicht aufbegehren, kommen wir zum Begriff der Beutegemeinschaften. Rackets brauchen Beutegemeinschaften zur Legitimation. Der Idealtypus der Beutegemeinschaft ist die protegierte Mittelschicht. Überall dort, wo exorbitanter Reichtum entsteht, wie in Indien, China oder auch Saudi-Arabien, werden Mittelschichten begünstigt. Sie sind die beste Herrschaftsgarantie für die Superreichen. Jimmy Hoffa oder auch Lucky Luciano haben mit diesen formalen Beutegemeinschaften herzlich wenig zu tun. Weil in den USA die Arbeitsbeziehungen wenig geregelt sind und sie keine andere Chance sahen, sich gegen die Kapitalmacht zu behaupten, mussten sie kriminelle Racket-Imitationen aufbauen und dementsprechend auch Beutegemeinschaften, die aber schon eher einen sozialistischen Anstrich hatten. Sie haben mit ihrer Beutegemeinschaft versucht, den Arbeitsmarkt zu monopolisieren, so wie sich Kapital auch monopolisiert.Placeholder authorbio-1Hat man Ihnen schon mal vorgehalten, eine Verschwörungstheorie aufzustellen?Ja, das ist ein alter Vorwurf. Ich behaupte entgegen einigen anderen Racket-Interpreten nirgends, dass Rackets überall herrschen. Die Racket-Theorie zeigt die Möglichkeiten und die unterschiedliche Intensität der Racket-Praxis der herrschenden Klasse auf. Sie ist ihr, gestützt durch Eigentumsprivilegien, ideologische Anerkennung und kulturelles Kapital, eingeschrieben, aber nicht überall manifestierte Realität. Das entpolitisierte, neoliberale Zeitalter heiligt den Gründer, den „Founder“, den Unternehmergeist, der sich mit diesen Privilegien gegen Gesellschaft und Gemeinsinn behaupten kann. Es ist schwierig, die Intensität dieser Möglichkeiten zu quantifizieren, weil sie sich von Land zu Land unterscheiden. Herrschenden von Fall zu Fall einen gewissen Eigensinn zu unterstellen, empfinde ich jedenfalls weniger als Verschwörungstheorie, als alle Arbeitslosen als faul zu bezeichnen – meiner Ansicht nach ist Letzteres die wirkmächtigste Verschwörungstheorie des 21. Jahrhunderts.Birgt der Racket-Begriff nicht auch die Gefahr einer Dämonisierung? Also etwa in dem Sinne, dass man bei der Zeitungslektüre manchmal den Eindruck bekommt, Oligarchen gibt es nur in Russland, nicht aber in der Ukraine. Und bei uns sprechen wir allenfalls von „Superreichen“ – das klingt ja fast ein bisschen wie aus einem Märchen. Oder um auf das Beispiel des „labor racketeering“ zurückzukommen – diese Erzählung von den korrupten und mafiösen Gewerkschaften in den USA ist ja lange auf eine Art kultiviert worden, die tendenziell verschleiert hat, dass Korruption und organisiertes Verbrechen im Kern eine zutiefst kapitalistische Angelegenheit sind und keine Besonderheit der Arbeiterbewegung.Ja, genau, Ihr letzter Satz entspricht meiner These. Aber ganz grundsätzlich: Ich habe mich ja gerade mit dem Racket-Begriff auseinandergesetzt, weil viele Begriffe wie Oligarchie, Elite, Autokratie eine geringe Aussagekraft haben. Der Racket-Begriff bringt meiner Ansicht nach die Frage nach der Souveränität präzise auf den Punkt. Der Historiker Fernand Braudel hat mal gesagt, das Kapital triumphiert, wenn es zum Staat wird. Die Praxis vieler Silicon-Valley-Milliardäre, die eigene Wertesysteme schaffen wollen, sich von der Gesellschaft entfernen und mittelalterliche Hierarchien aufbauen, entspricht exakt dieser Diagnose. Sie wollen eigene Gerichtsbarkeiten, Steuern, Ethik-Kodizes und Selbstregulierungen. Das begünstigt natürlich Rackets. Ein großes Problem der Linken ist heute, dass sie mit ihrer Kritik auf formale Staatlichkeit beschränkt bleibt, ganz so, als lebten wir noch in den 1960er Jahren. Und zur Dämonisierung: Wer ernsthaft von Rackets spricht, dem geht es so wie beim Blick in die „Panama Papers“. Da kann auch niemand zwischen russischen, amerikanischen und ukrainischen Rackets unterscheiden.Wie verhält sich Ihr Modell der Rackets in Beziehung zu anderen Ansätzen, Herrschaft und Machtausübung im gegenwärtigen Kapitalismus zu beschreiben – etwa zum Begriff der Finanzoligarchie oder dem Konzept der Post-Demokratie? Ist es eher ergänzend zu verstehen oder beschreibt es etwas fundamental anderes?Eher ergänzend. Wichtig sind mir zwei Dinge, die ich in vielen heute verwendeten Begriffen vermisse. Zum einen ist es die gesellschaftstheoretische Dimension der Elitenbegriffe. Wie stehen Oligarchien zum Staat und zu den Klassen? Zum Zweiten ist es die Dynamik kapitalistischer Herrschaft, die wir oft aus den Augen verlieren. Die Praxis im Racket-Muster ist eine dynamische Herrschaftspraxis, auf die Max Horkheimer immer verwiesen hat. Die „politbürokratischen“ Rackets in der Sowjetunion besaßen diese Dynamik nicht, ähnlich wie oft das „alte Geld“ untergehender Unternehmerdynastien. Manchmal hat man den Eindruck, die Chinesen haben das kapiert, wenn sie ihre Oligarchien regelmäßig „säubern“, weil Korruption und Parallelsouveränität erstarrte Strukturen schaffen, die der Parteidominanz gefährlich werden können.Würden Sie sagen, dass es eine fortschreitende Racketisierung von Staat und Gesellschaft gibt – oder dass diese Gefahr zumindest besteht? Und wenn ja: Wie können wir uns dagegen wehren?In meinem Buch vertrete ich die These, dass der Neoliberalismus mit seinem eingeschriebenen Anti-Kollektivismus Rackets begünstigt. Die Stärkung von Eigentums- und Vertragsrechten schafft ihnen mehr Spielräume. Starke demokratische Kollektive, überhaupt die Stärkung von Kollektivrechten, sind das Gegenmittel gegen Rackets. Wir müssen uns ja nur die Feinde des Neoliberalismus anschauen, dann wissen wir, was es zu stärken gilt: das sind Gewerkschaften, moderne Genossenschaften, Gemeineigentum, die Landlosenbewegung, Zapatisten – alles, was dem ausbeuterischen Kapital die Stirn bieten kann. Hierzu zählt im Übrigen auch eine legale Monopolisierung des Arbeitsmarktes und eine massive Regulierung der Finanzmärkte, solange uns keine überzeugende „racketfreie“ Alternative zum Kapitalismus einfällt.
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