Gibt es Passkontrollen für Raketen?

Gastkommentar Kalter Krieg und NATO-Schild

Der Zweite Kalte Krieg begann, als Präsident Clinton die NATO nach Osten bis an die Grenzen der einstigen Sowjetunion schob und danach den Sicherheitspakt mit Japan (AMPO) westwärts ausrollte, um Taiwan und Südkorea einzubeziehen. Folglich unterhalten die USA derzeit etwa 700 Militärbasen in 130 Ländern. Das Ergebnis ist die Einkreisung der halben Menschheit, die im Gegenzug die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) gründete. Dieser Verbund mit seinen sechs Mitgliedern (China, Russland und vier zentralasiatische muslimischen Republiken) sowie drei Beobachtern (Indien, Pakistan, Iran) lässt den alten Warschauer Pakt fast belanglos erscheinen.

Zu dieser Ansetzung kommt mit dem Islam eine dritte Kraft, die gleichfalls von den USA herausgefordert wird - mit den Anschlägen vom 11. September 2001 als Begründung.

Es gibt keine muslimischen Länder im NATO-AMPO-Block, aber sechs davon in der Shanghai-Gruppe. Mit einem davon, dem Iran, haben die USA ein Problem. Warum? "Weil sie uns hassen", ist die Erklärung aus Washington. Für die meisten Iraner trifft das nicht zu, für einige schon - warum? Die Antwort liegt auf der Hand: 1953 verhängten CIA und britischer MI 6 mit dem von ihnen lancierten Putsch gegen den legal gewählten Premier Mossadegh 25 Jahre Diktatur über Iran.

Es gäbe einen einfachen Ausweg, der schon lange wartet: Entschuldigung für ´53. Die Kosten: Das Eingeständnis von Amerikanern und Briten, Fehler zu machen. Stattdessen haben die USA die NATO dazu gebracht, eine "Verteidigung" aufzubauen gegen "ausschließlich" iranische nuklearverdächtige Raketen. Gibt es so etwas wie Passkontrollen für Raketen? Es geht um einen Raketenschild, der in Tschechien (Radar) und Polen (Raketen) stationiert werden soll. Da es noch viele andere Routen für solche Raketen gäbe, erscheint der russische Vorschlag wesentlich sinnvoller, eine solche "Verteidigung" in Aserbaidschan zu platzieren.

Bei alldem fühle ich mich an eine alte chinesische Fabel erinnert. Während der Han-Dynastie lebte ein Händler, der verkaufte sowohl Angriffs- als auch Verteidigungswaffen, unter anderem Hellebarden und Schilde. Zwei auffällige Aushänge in seinem Geschäft priesen die Vorteile der Waffen an: "Diese Hellebarde ist so scharf, dass sie jeden Schild spalten kann!" - "Dieser Schild ist so stark, dass keine Hellebarde ihn spalten kann!"

Genau so verhält es sich auch beim heutigen Wettrüsten mit Raketen, Antiraketen und Anti-Anti-Raketen. Jedes Kind kann erkennen, dass mit dem NATO-Abwehrschild Russland gemeint ist und eine ewige Spirale von Anti-Anti-Anti-Waffen ausgelöst wird - mit Lockvogelwaffen etwa, die Abwehrraketen auf falsche Ziele lenken, oder neuen Abwehrsystemen, die Russland bereits entwickelt.

Zugegeben. Es mag aus Sicht der USA Differenzen mit Moskau geben, die immer wieder zu Spannungen führen. Doch es gäbe auch Chancen, sie zu überwinden, sollten sich die Amerikaner entschließen, die Einkreisung zu stoppen. Was würde man in Washington denn sagen, wollte Russland Kuba und Venezuela in die Shanghai-Gruppe holen?

Aber die asymmetrische Verwundbarkeit, wie sie mit dem Raketenschild angestrebt wird, ist offenbar Teil einer strategischen Option. Es sieht so aus, als herrsche ein Bedürfnis nach gewinnbaren Kriegen - im Gegensatz zu den Kriegen ohne Fronten wie im Irak und in Afghanistan. Die NATO, inzwischen die größte Allianz der Geschichte, hat fast 50.000 Soldaten in einen Krieg am Hindukusch geschickt, der nicht zu gewinnen ist. Man sieht den Irak und errät den Rest der Geschichte. Afghanistan ist eine Station auf dem Golgatha-Weg, an dessen Ende es die NATO nicht mehr geben könnte. So sucht die Allianz nach neuer Bestimmung.

Johan Galtung, norwegischer Friedens- und Konfliktforscher

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