Winfried Kretschmann zum 75. Geburtstag: Ein Linker ist er nicht
Gründungsgrüner Winfried Kretschmann wird 75 Jahre alt. Wer ist der Mann, der Baden-Württemberg regiert und eine Politik macht, die unser Verleger auf die Formel „CDU plus Krötenwanderung“ gebracht hat?
An seinem Ehrentag trinkt Winfried Kretschmann hoffentlich nicht nur Kaffeeß
Er will keinen übertriebenen Aufwand zu seinem Wiegenfeste, seit Jahren erklärt er das mit demselben Spruch: „Geburtstag hat jede Kuh!“ Dennoch ist es wieder so weit, Baden-Württembergs Ministerpräsident wird 75 und das Stuttgarter Neue Schloss Schauplatz eines Festakts. Außer Konrad Adenauer war noch kein amtierender Regierungschef hierzulande älter als Winfried Kretschmann. Aber auch bei ihm rückt die Verrentung näher. 2026 wird im Land wieder gewählt.
Noch vor Kurzem war der gelernte Studienrat für Biologie, Chemie und Ethik ziemlich entschlossen, es im kommenden Herbst gut sein zu lassen mit dem Knochenjob im drittgrößten Bundesland. Wenn aber der grüne Politik-Profi Vertrauten kurzerhand „Pflichterfü
hterfüllung“ nennt als Grund für sein Umdenken, dann passt das in das klischeegesättigte Bild vom knorrig-konservativen Regenten, der Macht zuverlässig übersetzt als Instrument zu selbstloser Wahrung des Gemeinwohls. Und der jedenfalls nach Überzeugung sehr vieler seiner Landeskinder genauso gut in der CDU sein könnte.Seit mittlerweile sechs Jahren regiert Kretschmann das früher mal gern so genannte „Musterländle“ mit den Konservativen, obwohl er 2021 auch eine Ampelkoalition hätte installieren können. Hartnäckig durchkreuzte er einschlägige Pläne in der eigenen Partei. Das Motiv: Ihm steht die Union mit ihrem „C“ im Namen nun mal kulturell näher als SPD oder FDP. Mit Gewerkschaften hat er nix am Hut, materieller Mangel und soziale Ungleichheit gelten ihm weniger als gesellschaftliche Übel denn als Leistungsansporn, im Zusammenhang mit Flüchtlingen rutscht ihm schon mal die Vokabel „Tunichtgute“ heraus.Beten für MerkelUnd beharrlich hält er über den Koalitionspartner die schützende Hand, trotz dessen programmatischer Schwächen und interner Konflikte: Eine unübersichtliche, höchst unerquickliche Polizeiaffäre, die nun schon seit Monaten den Innenminister und CDU-Landesvorsitzenden Thomas Strobl belastet (der Freitag 22/2022), hätte diesen politisch wohl längst erledigt ohne seinen grünen Gönner. Nach dem religiösen Credo des frommen Regierungschefs rangiert sein Motto „Ich muss den Laden zusammenhalten“ gleich auf Platz zwei. Das gilt sowohl für die Gesellschaft im Allgemeinen als auch für eine von ihm geführte Landesregierung im Besonderen.In einer Zeit üppig grassierender Ablehnung von gewöhnlicher Parteipolitik und dem Egoismus ihrer Akteure verschafft so etwas kolossale Popularität, selbst wenn die gewohnten Traumwerte neuerdings etwas bröckeln. Auch deshalb kann Kretschmann es sich leisten, derselben Bundesregierung, an der seine eigene Partei maßgeblich beteiligt ist, regelmäßig Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Früher hingegen erfuhren Angela Merkel und ihre Große Koalition deutlich mehr Unterstützung aus Stuttgart, einschließlich Gebeten des Ministerpräsidenten für die Kanzlerin. Noch bis heute treffen sich die beiden schon mal zum Gedankenaustausch.Zum Gerüst seines Wertekanons gehört Parteiräson also nicht unbedingt. Dafür streut der Vater und Großvater unentwegt Weisheiten, Standpunkte und Aphorismen unters Volk, die ihm das Image eines unter Politikern seltenen Tiefgangs eintragen. Aus dem Schatzkästlein seines philosophischen Fixsterns Hannah Arendt stammt der Gebetsmühlen-Merksatz, wonach der Sinn von Politik die Freiheit sein soll.In dieser schräg verengten Pauschalität will das keinesfalls jedermann einleuchten, so wenig wie die CDU-affine These, das Konservative habe sich „als höchst veränderlich erwiesen“ – ganz zu schweigen vom schlicht-traditionalistischen Bekenntnis des Naturwissenschaftlers, die Welt sei von Gott erschaffen. Noch vor fünf Jahren vertraute er der taz die seltsam realitätsferne Erkenntnis an, die Grünen seien „nicht für Kapitalismus oder Kommunismus, sondern suchen neue Wege“. Derselbe Kretschmann, der öffentlich behauptete, er stehe „zu ’68 als kulturrevolutionärer Bewegung absolut und finde sie positiv und notwendig“, verkündet seit geraumer Zeit: „Ich bin kein Linker.“Streit bei MaischbergerEin Buch von ihm trägt den schönen Titel Für eine neue Idee des Konservativen. Und als Kretschmann bei Maischberger auf Freitag-Verleger Jakob Augstein traf, zeigte der sich begreiflicherweise irritiert über die These, der Markenkern der Grünen liege darin, „dass sie die Natur in die Mitte der Politik getragen haben“. Alles andere, was die Partei bearbeite, „war doch schon da“, befand Oberrealo Kretschmann. Augsteins herber Konter: Also Grüne gleich „CDU plus Krötenwanderung“.Unzulänglichkeiten wie diese ändern nichts daran, dass der Langzeitregent ein im erfreulichen Sinne außergewöhnlicher Politiker ist. Seine Bürgernähe und Ernsthaftigkeit sind nicht gespielt, der Fleiß steht außer Frage, die Bereitschaft zum Dialog mit Fachleuten ist ausgeprägter als bei vielen anderen Spitzenpolitikern. Von seinen Kritikern, darunter etliche über Gebühr verbiesterte Verächter, wird er nicht selten vorsätzlich oder fahrlässig missverstanden und sogar schamlosen Verrats bezichtigt. So zum Beispiel bei Stuttgart 21, einem Projekt, das der Gründungsgrüne bis heute in der Sache ablehnt, dem er nach einem hochproblematischen, aber positiv ausgegangenen Volksentscheid aus übergeordneten staatspolitischen Gründen nicht mehr im Wege stehen zu dürfen meint. Radikale Widersacher hingegen sehen darin eher den Opportunismus eines Machtbesessenen und den Drang, am Sessel zu kleben – womit sie ihm Unrecht tun.Genauso wie jene, die ihn wochenlang verhöhnten als „schwäbischen Provinzler“, bloß weil er öffentlich und bürgernah festgestellt hatte, dass angesichts drohender Energieknappheit das dauernde Duschen auch mal unterlassen werden und der gute alte Waschlappen wieder in Verwendung kommen könnte.Sein designierter NachfolgerLängst nimmt der Mann mit dem so oft beschriebenen Lebenslauf vom Ministranten zum Maoisten und Ministerpräsidenten gedanklich Abschied von der Macht. Nicht nur Parteifreunde registrieren an ihm dezent anschwellenden Frust über den Alltagsbetrieb, über die schwerfällige Langsamkeit des Großtankers Politik, über die Halbherzigkeit, mit der die hiesige und die Weltgemeinschaft auf das drohende Fiasko der Erderwärmung reagiert. Etliche wichtige Berater sind ihm nach und nach aus unterschiedlichen Grünen abhanden gekommen, der Beamtenapparat im Staatsministerium zeigt immer mehr erhebliche Defizite nach zwölf Jahren Kretschmann.Eingebetteter MedieninhaltLängst ist die Nachfolgefrage Alltagsthema, in Stuttgart, in Baden-Württemberg und natürlich in Berlin, wo die CDU mit Inbrunst darauf hofft, demnächst endlich wieder die Nummer eins zu stellen in dem prosperierenden Auto-, Technologie-, Wissenschafts- und Agrar-Hotspot zwischen Main und Bodensee. Schließlich war das immer so gewesen, bis 2011 in Fukushima der Tsunami kam und in der Bundesrepublik das Aus für die von den Grünen konsequent bekämpfte Kernenergie.Wenn nicht alles täuscht, will diese Rückeroberung ein Grüner verhindern, der auch eine kurvenreiche Vita aufzuweisen hat sowie einen imponierenden Bekanntheitsgrad: Cem Özdemir, Bundeslandwirtschaftsminister und Ex-Parteichef aus türkischem Elternhaus, geboren und aufgewachsen in Bad Urach, auch er ein Oberrealo, auch er schwätzt Schwäbisch.
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