Auf dem Titel der ersten Ausgabe der neuen Berliner Straßenzeitung Karuna Kompass prangte fett und in Großbuchstaben „Spar dir dein Mitleid“. Das Wort Karuna kommt aus dem Sanskrit und bedeutet so etwas wie Mitgefühl oder Liebe, aber eben nicht Mitleid. In Aldous Huxleys letztem Roman Eiland aus dem Jahr 1962 rufen Vögel dieses Wort und erinnern so die Menschen immerzu an diese Tugend. Eiland gilt als das utopische Gegenstück zu Huxleys legendärer Dystopie Brave New World.
Der Karuna Kompass ist das Nachfolgeblatt des traditionsreichen Strassenfeger. 24 lange Jahre wurde das Blatt von zuletzt 200 bis 250 Obdachlosen verkauft, etwa 10.000 bis 12.000 Exemplare waren das alle drei Wochen. Aus finanziellen Gründen hatte der Trägerverein mob e. V. im Juni das Ende der Zeitung beschlossen. Es hieß, die Anstrengungen für die Rettung seien auch nicht sehr groß gewesen. Karuna Kompass will nun manches anders machen. Die Zeitung steht für ein „pädagogisches Umdenken“. Die erste Ausgabe des Karuna Kompass war eigentlich als Forum gedacht, um für den eigenen Ansatz zu werben. Der Verein Karuna betreibt eine beachtliche Anzahl an Einrichtungen für obdachlose Jugendliche, Einrichtungen der Suchthilfe und verschiedene Kindereinrichtungen in Berlin. Neben dem Verein gibt es seit einigen Jahren zusätzlich die Karuna Sozialgenossenschaft. Auch Jugendliche, die selbst einmal obdachlos waren, sind dort aktiv.
Zeitung aus der Zukunft
„Wir wollten nach fast drei Jahrzehnten zusammenfassen, welcher pädagogischen Idee wir folgen, wenn wir Jugendliche begleiten, die am Rand der Gesellschaft leben“, erzählt Geschäftsführer Jörg Richert, die zentrale Figur hinter dem Karuna-Imperium. Als sie vom Aus des Strassenfeger hörten, seien Jugendliche aus der Sozialgenossenschaft auf die Idee gekommen, die Zeitung, die ohnehin bei ihnen herumlag, an die Strassenfeger-Verkäufer zu verschenken, so Richert. Daraus entwickelte sich die Idee, dauerhaft die Nachfolger-Straßenzeitung zu machen. Noch im Juni wurde „Spar dir dein Mitleid“ an Obdachlose verteilt. Die zweite Ausgabe des Karuna Kompass mit dem Titel „Zeitung aus einer solidarischen Zukunft“ ist seit Ende Juli erhältlich. Darin geht es unter anderem um Häuser mit nur 12 Quadratmetern zur Bekämpfung von Wohnungslosigkeit und um das größte Flüchtlingslager der Welt. Von nun an soll die Zeitung ein Mal im Monat erscheinen. „Ich habe schon richtig viele Zeitungen verkauft, auch an meine Stammkunden“, erzählt die umtriebige Verkäuferin Christine. Lange war sie für den Strassenfeger unterwegs, jetzt wird sie wegen ihres leidenschaftlichen Einsatzes für den Karuna Kompass herzlich „unser Maskottchen“ genannt. Sie erzählt von positiven Rückmeldungen anderer Obdachloser. „Auch die anderen sagen: Super, super, machen wir. Ich kenne die ja alle.“ Auch der Strassenfeger kostete 1,50 Euro, aber die Obdachlosen mussten die Zeitungen für 60 Cent pro Stück ankaufen. Der Erlös von 1,50 geht beim Karuna Kompass ganz an den Verkäufer. „Ist wie Lohnerhöhung“, sagt Christine.
Das System retraumatisiert
Neben dem Strassenfeger beziehungsweise jetzt dem Karuna Kompass gibt es in Berlin zwei weitere Obdachlosenmagazine: die motz, die bereits seit 1995 existiert, und die Streem, die erst 2011 entstand. In keiner anderen deutschen Stadt gibt es mehr als eine Straßenzeitung, nur in Berlin. „Wir haben vier- bis zehntausend Obdachlose in der Stadt, aber insgesamt nur 500 Verkäufer von Straßenzeitungen, da stimmt irgendetwas nicht“, merkt Richert kritisch an. „Warum verkaufen so wenig Menschen?“ Die Zahl der Obdachlosen steige rasant. Häufig seien Obdachlose vorher durch die Jugendhilfe gegangen, so Richert. „Da spielt alles ineinander: der fehlende Wohnraum, falsche Betreuung und falsche Pädagogik.“ Mit dem Zustand der konventionellen Jugendhilfe kennt Richert sich aus.
„Die Jugendhilfe, die eine Verantwortung hat, wenn die Eltern ausfallen, macht etwas systematisch falsch“, sagt Richert. „Wir kommen nicht von der Stelle.“ 500.000 Kinder und Jugendliche seien in Deutschland mit der Jugendhilfe in Kontakt. Insbesondere in Berlin seien die Jugendämter völlig überlastet. „Ein Mitarbeiter in Berlin hat 85 Schwerpunktfamilien zu betreuen. Das ist ein Zeichen, dass das System erodiert ist. Das funktioniert so nicht mehr.“
Karuna orientiert sich unter anderem an der italienischen Reformpädagogin Maria Montessori. Der Schweizer Pfarrer Sieber, der für seinen Einsatz für Obdachlose, Sucht- und Aidskranke bekannt wurde, gilt als Vorbild. Eine falsche Pädagogik hat für Richert insbesondere etwas mit der sogenannten professionellen Distanz zu tun, einen Begriff, den Richert nicht verwenden würde, da er Distanz eben nicht für professionell hält. „In der Pädagogik geht es immer um die gesunde Distanz. Diese Distanz verhindert aber eine authentische Begegnung.“ Richert sieht die Gründe für diese Distanz unter anderem darin, dass sie erleichtern soll, eine Beziehung auch wieder aufzugeben, so wie die Jugendhilfe es fordert. „Der Jugendliche sucht aber nach einer verlässlichen, dauerhaften Beziehung, die er von seinen Eltern nicht geboten bekommen hat“, sagt Richert, „Das System retraumatisiert die Jugendlichen.“ Karuna dagegen plädiert für eine „familienähnliche Konstruktion“, spricht von „Bonusfamilie“.
Für den pädagogischen Ansatz von Karuna spielt auch die DDR eine Rolle. Richert hat Karuna kurz nach der Wende gegründet. Damals trug der Verein noch den Namen: „Freizeit ohne Drogen e. V.“ Vor der Wende hat Richert in Ostberlin Jugendclubs geleitet. Jugendsozialarbeit gab es in der DDR offiziell nicht. „Ich sollte Jugendkultur organisieren. Ich lasse mal die ideologische Nummer da weg“, erzählt er schmunzelnd. Wie die Jugendclubs organisiert waren, partizipativ und auf Augenhöhe, inspiriert ihn auch heute noch.
Karuna will für das geforderte pädagogische Umdenken die Zivilgesellschaft in die Verantwortung nehmen: „Für die Zivilgesellschaft ist es eine wichtige und schöne Aufgabe, sich zu kümmern“, sagt Richert überzeugt. Dafür müsse die Abgrenzung zur Jugendhilfe weg. „Die Jugendhilfe macht sozusagen eine Glasglocke über die Kinder und Jugendliche, sodass es keinen Kontakt zwischen ihnen und der Zivilgesellschaft, dem normalen Leben gibt. Sie sind isoliert.“
Eben diesen Kontakt möchte die Karuna Sozialgenossenschaft ermöglichen. Über siebzig Mitglieder hat sie bundesweit. „Wir ermutigen die Jugendlichen, die durch unsere Einrichtungen gegangen sind, sich einzubringen, Verantwortung zu übernehmen, für andere und auch für sich selbst – und das aber mitten im Leben“, sagt Richert, „von Anfang an muss das auf Augenhöhe stattfinden und gleichberechtigt sein. Das ist ein sehr interessantes Experiment.“
Innerhalb der Sozialgenossenschaft werden ganz unterschiedliche Projekte realisiert. So wurde zum Beispiel eine App für Straßenkinder entwickelt, und auch ein Modelabel wurde gegründet. Ende September organisiert die Sozialgenossenschaft die vierte Bundeskonferenz der Straßenkinder in Berlin. „Wir kommen zusammen und fragen uns, wie können wir die Gesellschaft verbessern und wen bräuchten wir für eine der vielen konkreten Ideen, die wir haben?“, beschreibt Richert die Arbeitsweise. Richert ist es wichtig, die Ressourcen zu sehen, die die Jugendlichen mitbringen: „Das ist eine Stärke der Entkoppelten, dass sie eine ganz starke Empathiefähigkeit haben.“ Diese Ressourcen mache die Sozialgenossenschaft verwertbar. Besonders kapitalismuskritisch klingt das irgendwie nicht, aber vielleicht muss es das ja auch gar nicht.
Den Karuna Kompass gibt die Sozialgenossenschaft zusammen mit dem Unternehmen Independent Connectors heraus, das bereits Erfahrung mit Büchern und Zeitschriften hat und auch Teil der Sozialgenossenschaft ist. „Die Zeitung sehen wir als Start-up“, so Richert. Das Geld für die Zeitung kommt zum einen aus den Einlagen der Genossenschaft und Stiftungen. Zukünftig soll die Zeitung auch über Werbeeinnahmen finanziert werden. Eine Zeitung zu machen, sei nicht so teuer, stellt Richert klar. „So eine Redaktion ist nicht ganz unaufwendig. Aber wenn die Community drum herum groß genug ist, die Arbeit verteilt werden kann, geht es.“
Der Karuna Kompass will sich vorrangig sozialkritischen Themen widmen, aber eben nicht nur beschreiben, was ist, was sich auch übrigens die Betroffenen wünschen, dass man nicht immer über das „Elend“ schreibt. Für die Zukunft ist auch eine Web-Präsenz geplant, die sich an jetzt.de, der Jugend-Webseite der Süddeutschen Zeitung orientieren soll. „Unser pädagogischer Ansatz wird immer eine Rolle spielen“, sagt Richert zur Ausrichtung des neuen Straßenmagazins. „Aber ich muss auch aufpassen, dass ich die Leser damit nicht langweile.“
Innerhalb der Redaktion soll eine Jugendredaktion gegründet werden, bestehend aus sechs jungen Menschen. „Wir wollen Jugendliche ohne Ausbildung, die aber Freude an dem Business haben, für zwei Jahre ausbilden. Innerhalb der folgenden zwei Jahre sollen sie so qualifiziert werden, dass sie die Zeitung zu siebzig Prozent selbst machen können. Aber im Rahmen der Genossenschaft, damit das Setting sicher ist“, legt Richert den Plan dar. „Die Zeitung selber wird dann zunehmend von jungen Menschen für Obdachlose zum Zuverdienst gemacht.“
Auch Christine, die engagierte Verkäuferin, will sich beteiligen: „Ich finde den super, den Karuna Kompass. Ich will auch was schreiben, habe ich für den Strassenfeger auch schon gemacht.“
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.