Es schleift

Zeit Wir alle warten auf irgendwas, meist unfreiwillig. Nun widmet sich ein Essayband dieser Kulturpraxis
Ausgabe 23/2019

Wer Macht hat, der wartet nicht, sondern lässt andere warten. In unserer Gesellschaft, die immer effektiver und produktiver sein will, wird Warten oft als gestohlene Zeit erlebt. Warten kann mit Hoffnung verbunden sein oder Sorge, mit freudiger Erwartung oder Panik. Und es erfordert eine bestimmte Architektur.

Die Fotografien von Ursula Schulz-Dornburg zeigen Bushaltestellen im postsowjetischen Armenien (der Freitag 29/2018). Die maroden, aber einzigartig und teilweise futuristisch gestalteten Wartehäuschen stehen vereinzelt vermeintlich im Nichts. Doch tatsächlich kann man dort Wartende sehen, herausgeputzt und ganz verloren wirkend. Schulz-Dornburg, 1938 in Berlin geboren, beschäftigt sich insbesondere mit Transitorten an den Grenzen Europas und außerhalb.

In ihrem aufwendig gestalteten und vielseitigen Sammelband Die Kunst des Wartens gehen Brigitte Kölle und Claudia Peppel den verschiedenen Facetten dieses Zustands nach. Er versammelt zeitgenössische Fotografie und Kunst (neben Schulz-Dornburg sind Werke von David Claerbout, Andreas Gursky, Candida Höfer und Tobias Zielony dabei), Essays, Interviews und Zitate aus literarischen Werken. Die Herausgeberinnen konnten dabei an zwei Ausstellungen anknüpfen. 2016 kuratierte Peppel am ICI Berlin The Waiting Room,Kölle 2017 an der Hamburger Kunsthalle Warten. Zwischen Macht und Möglichkeit. So kann man den Titel des Bandes doppeldeutig verstehen: Warten als eine Fähigkeit, die man lernen kann, und Warten als Gegenstand der Kunst. Es sind Betrachtungen über eine aussterbende Kulturtechnik.

Delikatesse oder Asylbescheid

Wir stellen uns beim Warten etwas vor, was in der Zukunft liegt, ein Ereignis, das wir nicht in der Hand haben. Warten ist ambivalent. Oft überwiegt das Gefühl des passiven Ausgeliefertseins und der Ohnmacht, aber es gibt auch die andere Seite: freudige Erwartung und Kontemplation. Der Geisteswissenschaftler Johannes Vincent Knecht spricht dem Warten sogar widerständiges Potenzial zu. Dabei meint er eben nicht den schnellen Blick aufs Handy. „Wer sich außerhalb von Konsum- und Ablenkungszusammenhängen nicht mehr erträgt, ist leicht zu beherrschen“, schreibt er in seinem Essay im Buch.

Viele Menschen warten unfreiwillig, sie haben keine Wahl, wenn sie andernfalls ihren Asylbescheid vergessen können, oder ihr halbes Pfund Butter, oder eben den Bus, der sie nach Hause bringt. Das gilt vor allem an Orten, wo es keine Zeitpläne gibt und der Bus eben kommt, wenn er kommt.

Wie Warten den Alltag in der DDR prägte, davon zeugen die Fotografien von Gerhard Gäbler, der 1952 in Leipzig geboren wurde. Vor einem Delikatessengeschäft drängen sich die Menschen. Ähnlich wie in der Sowjetunion musste man in der DDR oft Schlange stehen. Doch man wartete auch auf Wartelisten, auf denen der eigene Name über Jahre nach oben rücken musste, bis man eine eigene Wohnung oder ein Auto bekam. Zur Wendezeit hieß es dann: wieder warten. Ein Foto aus dem Sommer 1990 zeigt lange Schlangen vor einer Sparkasse in Leipzig.

Ob das Warten eher Ohnmacht, Strafe oder Zumutung bedeutet oder eine Möglichkeit für den Blick nach innen, hängt stark davon ab, unter welchen Zuständen jemand wartet.

Andrea Diefenbach, geboren 1974 in Wiesbaden, fotografiert zerrissene Familien: Kinder, die in Moldawien zurückgeblieben sind. Ihre Eltern sind nach Italien gegangen, um dort, teilweise illegal, Geld zu verdienen. Die Bilder sind verstörend. Ein Mädchen steht wackelig auf einem Stuhl und telefoniert mit einem Telefon mit langer Strippe und Wählscheibe. Unklar ist, wie lange die Kinder auf ein Wiedersehen warten müssen. Die Fotografien fangen ein, was soziologisch unter dem Begriff der global care chain bekannt ist. Menschen aus ärmeren Ländern migrieren in reichere Länder, um dort Fürsorgetätigkeiten zu leisten.

Warten ist ein Nicht-Ereignis, soziale Praxis und dann auch Plattform für den künstlerischen Blick – beides wurde in diesem Band mit vielschichtigen Momentaufnahmen stimmig zusammengebracht. Können wir überhaupt noch warten? Kann man es lernen? Ein Werk, das sich auch fürs Wartezimmer eignet.

Info

Die Kunst des Wartens Brigitte Kölle, Claudia Peppel (Hrsg.) Verlag Klaus Wagenbach 2019, 168 S., 28 €

Am 12. Juni wird das Buch in der Berlinischen Galerie präsentiert

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