Hunger nach Sinn

Terror Nach Anschlägen wird stets eine Erklärung des Motivs gefordert. Es ist aber nötig, sich auch der eigenen Verwundbarkeit zu stellen
Ausgabe 34/2017
Trauer und Fassungslosigkeit über die Anschläge in Barcelona und Cambrils
Trauer und Fassungslosigkeit über die Anschläge in Barcelona und Cambrils

Foto: Llui Gene/AFP/Getty Images

Ein gemieteter Lieferwagen fährt in Barcelona 600 Meter im Zickzack über die Ramblas, 13 Menschen sterben, 120 werden verletzt. In Cambrils geraten Terroristen in eine Polizeikontrolle, sie tragen Attrappen von Sprengstoffgürteln. Vier werden erschossen, einer ersticht eine Passantin. Auch er wird sterben. Die Terrorzelle gilt nun als zerschlagen: eine Gruppe marokkanischer junger Männer, die im Norden Kataloniens, in der Kleinstadt Ripoll aufgewachsen sind.

Das alles sind Fetzen an Informationen, die nicht erklären können, wie junge Männer, eigentlich Jugendliche von 17 bis Anfang 20, es als sinnvoll empfinden können, Menschen umzubringen. Ihr eigenes Leben war ihnen weniger wert als der Tod vieler. Der Terror hinterlässt Sprachlosigkeit. Der Brunnen Font de Canaletes in Barcelona quillt von Kerzen und Plüschtieren über. Der Wunsch, eine plausible Erzählung für den Terror zu finden, ist riesig.

Die Geschichte, welche die Sprachlosigkeit aufbrechen soll, lautet nun ungefähr so: Der IS befindet sich im Krieg. Er ist der Strippenzieher in der Ferne. Die Gefahr kommt von außen. Sie darf nichts mit der eigenen Gesellschaft oder der sozialen Situation der Täter zu tun haben. Der IS muss die Quelle des Irr-Sinns bleiben, nach Spanien hat ihn ein obskurer Imam getragen. Attackiert aber wird ein westlicher Lebensstil, das unbekümmerte Savoir-vivre.

Der „Krieg gegen den Terror“ ist nicht zu gewinnen

Die Reaktionen auf den Anschlag sind dementsprechend: erstens, die unspezifische Forderung nach mehr Sicherheit; und, zweitens, ein unbeirrtes „Wir machen trotzdem weiter“. Zwei Antworten – die den möglichen symbolischen Zusammenhang zwischen einer ausbeuterischen Weltordnung, den Kriegen im Nahen Osten und der Gewalt ignorieren.

Hinter dem Wunsch nach einer kohärenten Geschichte steht auch die Ohnmacht. Denn der „Krieg gegen den Terror“ ist nicht zu gewinnen. Sicherheitsvorkehrungen können terroristische Anschläge nur im Einzelfall verhindern, sie berühren die Ursache des Phänomens nicht direkt. Die Entscheidung Einzelner, weiter in Cafés und auf die Straße zu gehen, kann terroristische Anschläge nicht stoppen. Das Erstaunen darüber, dass auch Terroristen ihren Nachbarn Hallo sagen, lässt sich ja auch nur so verstehen, dass man ihnen ihren Wahnsinn eigentlich anmerken müsste. Terroristen werden eben nicht als sinnhaft Handelnde wahrgenommen. Alle Versuche, die Wunde des Terrors zu schließen, werden von der unfassbaren Gewalt verschluckt. Der Hunger nach Sinn wird maßlos enttäuscht.

Um das Dilemma auflösen zu können, bräuchte es beides: zum einen das Eingestehen der eigenen Ohnmacht und Verwundbarkeit. Das ist nichts anderes, als zu trauern – auch darüber, nicht sofort Konsequenzen ziehen zu können. Zum anderen braucht es das Anerkennen, dass die Anschläge für die Täter sehr wohl sinnhaft sind und sie ihre eigene Geschichte erzählen: die Länder, denen sie sich zugehörig fühlen, werden ökonomisch ausbeutet oder bombardiert. Anzuerkennen, dass Terroristen für sich sinnvoll handeln, bedeutet nicht, sie zu legitimieren, sondern hinter den Wahnsinn zu schauen. Nur so können wir Handlungsfähigkeit entwickeln, anstatt mit Trotz und Vermeidung zu reagieren und die eine plausible Geschichte zu verteidigen. Nur wenn wir beides annehmen, können wir notwendige Fragen stellen: Wie kommt es dazu, dass Menschen, die mitten in Europa aufgewachsen sind, ihrem Leben für den IS ein Ende setzen? Welches Bedürfnis wird befriedigt, möglichst viele Menschen mit in den Tod zu reißen, selbst Kinder wie den siebenjährigen Julian Cadman? Wo liegen die Wurzeln des Terrors?

Wir brauchen Psychologen, Islamwissenschaftler und Experten, die koloniale Geschichte verstehen. Wir müssen nachdenken, wie die Kriege im Nahen und Mittleren Osten beendet werden können, ob und welche Form der Überwachung Sinn macht oder ob legale Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge helfen. Wir müssen über Männlichkeitsbilder und Minderwertigkeitskomplexe nachdenken. Und wir brauchen auch die Täter, die wir festnehmen und fragen müssen und nicht einfach erschießen dürfen. Das sind nicht etwa falsche oder feige Reaktionen auf den Terror. Sie sind notwendig. Sonst bliebe nur noch Angst. „Wir haben keine Angst und werden niemals Angst haben“, behauptete der spanische König Felipe VI. – mitten in einer Kirche voller Angst. Er sagte das, weil die übliche Reaktion auf Terror Angst ist – das lateinische Wort Terror bedeutet „Schrecken“.

Die Anschläge von Barcelona und Cambrils waren am Donnerstag. Am Freitag tötete im finnischen Turku ein 18-jähriger Marokkaner zwei Passanten. Am Samstag verletzte ein Russe sieben Menschen in der sibirischen Ölstadt Sugut.

Und in Rakka in Syrien starben am Sonntag über 80 Zivilisten bei einem Bombardement der US-Koalition, darunter 30 Kinder. Auch Spanien bombardiert mit. Aber praktisch niemand nimmt davon Notiz. Immer mehr Terror, der wieder Sprachlosigkeit und Angst hinterlässt. Sich diese Ratlosigkeit nicht einzugestehen, nährt eine fortschreitende Polarisierung zwischen „dem Westen“ und „dem Islam“. Es gibt Menschen, die davon profitieren: darunter Islamisten, neue Rechte, und alle, die einfache Antworten haben, wo es sie nicht gibt.

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