Die Wintersonne scheint auf Berlin-Moabit. Keine Menschen, nur Autos fahren vorbei. Wache Augen, spätes Lächeln. Nell Zink steht bewegungslos da, dick eingepackt. Mütze, Schal, weite Jeans, Wanderschuhe. Neben ihr ein Fahrrad, nicht fancy, eher so ein Normalo-Ding. Wir machen erst mal Fotos. Immer wieder fallen ihr die langen, glatten, grauen Haare ins Gesicht. Sie will sich nicht auf die dreckigen Treppenstufen am S-Bahnhof setzen, sagt sie in fast perfektem Deutsch. Aber Fahrrad fahren ist okay. Und wie sie da so fährt, der Wind weht ihr die Haare zurück, da wirkt sie so voll von kindlichem Ernst. Da glaubt man kaum, dass diese schmale Frau 55 Jahre alt ist.
Nell Zink ist spät berühmt geworden. „Was heißt berühmt?“ Sie lacht. „Kim Kardashian ist berühmt, nicht ich. Manchmal bin ich eine Woche lang berühmt, weil ich gerade im Fernsehen war, im rbb oder so. Dann kann es dazu kommen, dass mich ein fremder Mensch anspricht. Ansonsten ist das schon ein bisschen ein Widerspruch in sich – wie der alte Witz ‚Berühmter Dichter‘.“ Bescheiden ist sie. Seit ein paar Jahren wird die US-amerikanische Schriftstellerin, die seit knapp zwanzig Jahren in Deutschland lebt, international gefeiert. Im Herbst 2014 kam ihr erstes Buch heraus, im Mai 2015 veröffentlichte der New Yorker ein Porträt über die bis dato völlig unbekannte Zink. „Das ist nicht mal drei Jahre her. Ist echt schnell gewesen alles.“ Sie sagt es ungläubig, als falle es ihr jetzt erst auf. Zinks Geschichte ist beeindruckend, weil sie einem ein Gefühl davon vermittelt, wieviel im Leben Durchhalten ist oder einfach glücklicher Zufall.
Eigentlich wohnt Zink in einer kleinen Wohnung in Bad Belzig in Brandenburg, aber gerade ist sie für ein paar Tage in Berlin. Leben könnte sie hier nicht, immer Menschen um sich herum zu haben, findet sie auf Dauer anstrengend. Was hat sie zum Schreiben motiviert, die ganzen vielen Jahre, in denen sie keine öffentliche Wertschätzung dafür bekam? „Das ist so wie in den klischeehaften Sprüchen über Schriftsteller: Ich kann mir das Leben nicht anders vorstellen, ich schreibe immer, ich habe schon immer geschrieben.“ Sie leiert das herunter, als wäre es nichts Besonderes. Was ist jetzt anders, seitdem sie als Schriftstellerin erfolgreich ist? „Mein Gemütszustand ist auf jeden Fall besser“, entgegnet Zink, „Nach außen hin hat sich erstaunlich wenig verändert.“
Wir sitzen in der Wohnung eines Freundes, bei dem sie unterkommt, wenn sie in der Stadt ist. Sie schläft auf einer Gästematratze auf dem Boden. „Mein Lebensstil war immer ein bisschen studentisch. Von klein an. Der meiner Eltern auch. Sie waren Mittelschicht, aber nicht gehobene. Ich merke das bei Bekannten, die übers Schreiben zu Geld kommen und dann anfangen, viel Geld auszugeben, die sind auch so aufgewachsen. Ich wüsste nicht mal, wie das geht.“ Das glaubt man ihr. Sie sieht nicht aus wie eine Person, die besonderen Wert auf extravagante Gegenstände oder schicke Restaurants legt.
Franzen? Eher unsympathisch.
Vier Bücher sind bisher von ihr erschienen, zwei davon auch auf Deutsch: Der Mauerläufer und Nikotin. „Ich habe jetzt eine gewisse emotionale, finanzielle Sicherheit.“ Es läuft gut für Zink. „Gerade habe ich einen neuen Roman bei meiner Agentin abgegeben.“ Auch ihr Schreiben profitiere davon. „Ich schreibe längere, kohärentere Sachen, weil ich jetzt weiß, dass es dafür einen Markt gibt, nicht nur, was das Geld angeht, sondern auch, was die Leser betrifft. Man schreibt anders, wenn man nur für den einen besten Freund schreibt, so wie bei mir mit Avner Shats.“ Lange schrieb Zink nur für ihn, einen befreundeten Autor in Israel. Aus der fernen Vergangenheit grüßt Rahel Varnhagen, die im 19. Jahrhundert lebte und für ihre Briefe berühmt ist. Ein Buch schrieb die Varnhagen allerdings nie.
Geboren wurde Zink 1964 in Südkalifornien, in Corona, einer Kleinstadt. Der Babyboom ging da gerade zu Ende. Sie erzählt von den Generationskonflikten der Zeit, die auch vor Kunst und Literatur nicht halt machten: „Ich war eine geborene Modernistin oder Postmodernistin“, sagt sie. Entschieden zu modern für ihre Eltern: „Die standen eher auf Sachen aus der Vorkriegszeit. Ich bin mit Jane Austen aufgewachsen, Alexandre Dumas und solchen Geschichten“, sagt sie. „Und dann las ich halt John Barth und so etwas in der Schule.“ Der 1930 geborene Barth ist bekannt für ein Schreiben, dem man seine Künstlichkeit gerade anmerken soll. Als sie acht war, zog die Familie nach Virginia. Aufs Land. „Das war recht heftig. Die Rassentrennung war da erst vor kurzem aufgehoben worden.“ Nell Zinks zweiter Roman Mislaid, der 2015 für den National Book Award nominiert wurde, handelt auch von Problemen afroamerikanischer Identität.
Sterben, vögeln, rauchen: Nell Zinks Roman „Nikotin“
Ähnlich wie beim rasanten Vorgänger Der Mauerläufer fackelt die in Deutschland lebende US-amerikanische Schriftstellerin Nell Zink auch in Nikotin (übersetzt von Michael Kellner, Rowohlt 2018, 400 S., 22,95 €) nicht lang: Als könnte sie es nicht erwarten, endlich mit der eigentlichen Handlung loszulegen, überspringt sie nach dem eine Seite umfassenden Auftakt zwei volle Jahrzehnte.
Kurz darauf noch ein Zeitsprung: Inzwischen ist Hauptfigur Penny auf die Welt gekommen und erwachsen geworden, ihre Mutter hat die Vergangenheit in Kolumbien hinter sich gelassen, und ihr Vater Norm ist so krank, dass seine Pflegerinnen zum „stationären Hospizmodus“ raten. Den Tod schildert Nell Zink ohne Berührungsängste, dafür mit Empathie und Humor: kein Lebens-, sondern ein Sterbensende. Besonders für Penny hat Norms Tod etwas Kathartisches, sie muss sich aber einen neuen Lebensmittelpunkt suchen. Der kommt in Gestalt von Norms verfallenem Elternhaus in New Jersey, wo allerdings schon ein paar Hausbesetzer nach ihren eigenen Regeln wohnen und ihrem Heim den Namen „Nikotin“ gegeben haben. Fast mühelos wird Penny Teil dieses Gefüges. Zink zeigt die Kommunarden keineswegs als anachronistische Spinner, und passend dazu ist der Roman in atemlosem, mitunter impulsivem Präsens geschrieben.
„Was ich brauche, ist eine Zeitkapsel“, sagt der sterbende Norm. Weil er noch so viel zu erzählen habe. Der Roman selbst scheint das wettzumachen. Auf 400 Seiten wird versucht, gescheitert und weitergemacht, gekämpft, gestorben, gevögelt, natürlich geraucht – und wieder aufgehört. Jana Volkmann
„In Virginia stand unser Haus mitten im Wald, also da war etwas Rasen und dann kam halt der Wald.“ Zinks Liebe zur Natur könnte etwas mit diesem Haus zu tun haben. Ihre Mutter war gelernte Bibliothekarin, fand aber keinen Job. Ihr Vater war Physiker. „Er hat so kleine Raketen getestet, für die Navy, um sie von einem Schiff auf ein anderes zu feuern.“ Mit ihrer Hand deutet sie an, wie klein diese Raketen waren. „Meinen Eltern konnte ich es nicht recht machen. Ich konnte es in der Regel nie irgendjemandem recht machen und habe mich einfach durchgewurstelt fünfzig Jahre lang.“ Mit Mitte zwanzig ging Zink aus Virginia weg. Sie heiratete früh, zog ein paar Mal innerhalb der USA um, hatte verschiedene Jobs. Nebenher schrieb sie. In den 90er Jahren gab Zink ein Fanzine heraus, Animal Review, mit Tiergeschichten. „In der Zeit habe ich als Sekretärin gearbeitet, da konnte ich den Kopierer nutzen.“ Ihr erster Mann schrieb Plattenkritiken für das Zine. „Das waren fünfzehn gedruckte Hefte, das letzte kam 1997 raus.“ In diesem Jahr zog sie nach Tel Aviv und heiratete zum zweiten Mal. Inzwischen hat sie der Ehe abgeschworen. „Die erste Scheidung kostete mich ganze 150 Dollar“, erzählt sie. „In den USA kann man sehr leicht heiraten und sich leicht scheiden lassen. In Deutschland ist beides etwas komplizierter.“ Im Mai 2000 zog sie nach Tübingen. „Das Schöne an Deutschland war, dass ich übersetzen konnte, aber ich habe nie irgendetwas Literarisches übersetzt. Es waren eher Texte der metallverarbeitenden Industrie.“
Richtig emotional wird Nell Zink, wenn sie über Vogelschutz redet. Sie erzählt, wie sie den deutschen Naturschützer Martin Schneider-Jacoby kennenlernte, als sie für ihn übersetzte. „Er hatte das Problem, dass die Naturschutzstiftung, für die er gearbeitet hat, in diesen Jahren sehr wenig Geld hatte.“ Zink imitiert Schneider-Jacobys Stimme und ruft „Wir brauchen unbedingt 500 Euro für eine Nisthilfe für eine Blaurake!“ Glucksendes Lachen. „Das hing damit zusammen, dass die Stiftung vor allem auf dem Balkan gearbeitet hat, wo wirklich niemand Geld hatte, außer pensionierten Bürgerkriegssoldaten. Die haben Blesshühner geschossen, nicht versteckt, sondern ganz offen, mitten im Naturschutzgebiet.“ Zink half Schulz-Jacoby mit der Pressearbeit. Sie erzählte allen Journalisten, die sie kannte, von der Situation auf dem Balkan. Der 2012 gestorbene Naturschützer beeindruckte Zink: „Er konnte die Vögel überzeugend als Opfer von Dummheit darstellen. Ich glaube, damit kann sich jeder identifizieren. Du wirst drangsaliert oder getötet, weil andere dumm sind.“
Für die Geschichte, wie Zink dann als Schriftstellerin doch noch erfolgreich wurde, spielen der Vogelschutz und Jonathan Franzen eine große Rolle. Franzen veröffentlichte im New Yorker einen Artikel über die Jagd auf Zugvögel im Mittelmeerraum. Zink vermisste den Balkan und machte Franzen in einem Brief darauf aufmerksam. Am Erfolgsautor Franzen selbst war sie nicht so interessiert. „Ich wusste, dass er Romane schreibt, weil er in Tübingen gewesen war, aber es klang für mich nicht wie etwas Gutes. Der Mann war mir unsympathisch. Aber wenn es um Vogelschutz geht, muss man zu Franzen.“ Ihr Brief muss klug und witzig gewesen sein. Franzen bemerkte ihr Talent, ermutigte sie, für ein größeres Publikum zu schreiben. Zinks israelischer Freund Shats hatte eine Geschichte namens Sailing Towards The Sunset geschrieben, Nell Zink die Geschichte Sailing Towards The Sunset by Avner Shats. Franzen bot das Manuskript einem Verlag an, ohne Erfolg. Die Geschichte wurde später zwar doch noch veröffentlicht. Doch erstmal wollte Zink Franzen beweisen, dass sie etwas produzieren konnte, was sich leichter verkaufen ließ als diese obskure Geschichte. Innerhalb von vier Tagen schrieb sie den Anfang von Der Mauerläufer und schickte Franzen das Manuskript als Geschenk zu. „Die letzten zwei Drittel waren wirklich für niemanden“, Zink betont das Wort „niemand“, zieht die Silben auseinander, „die waren für mich.“ Zink verkaufte das Manuskript . Franzens Agentin nahm sie unter Vertrag. Der Mauerläufer ist in der Ich-Perspektive geschrieben, die Protagonistin hat dabei einige Ähnlichkeiten mit Zink selbst. Das Buch beginnt mit dem Autounfall eines jungen Paares, der eine Fehlgeburt auslöst. Sie finden einen verletzten Vogel, einen Mauerläufer. Eine Art Ersatz für das Baby? „Sie lassen ihn dann frei, weil sie Gefahr laufen, ihn zu vermenschlichen.“
Gepriesen wurde Der Mauerläufer für Zinks bissigen Witz. Und für die Sexszenen. Eine bekam besondere Aufmerksamkeit: „Im Mauerläufer habe ich ein Tabu gebrochen. Ungefähr auf Seite 7 gibt es eine Analverkehr-Szene, wo die Frau sagt, es macht null Spaß und es fühlt sich an wie Kacken.“ Zink lacht wieder. „Also, sie sagt das sehr poetisch, das ist ein literarisch sehr wertvolles Buch, geschrieben in meinem besten Englisch!“ Was war der Tabubruch daran? „Frauen können darüber nicht so sprechen. Die sagen einfach, es tut weh. Mit Schmerz ist man fein raus. Wenn man aber sagt: Es ist eklig! Dann hat man die Leute, die darauf stehen, beleidigt.“ Zink spielt mit der Szene auch auf Franzens Romane an. „In seinen Romanen spielt Analverkehr immer wieder eine Rolle, als Intimitätsbeweis.“
Auch im neuen Buch Nikotin ist Sex ein wichtiges Thema. „Es ist eine Liebesgeschichte, bei der die Frau frustriert ist, weil ihr Angebeteter behauptet, er wäre asexuell. Sie will es ihm nicht abkaufen. Was politisch schon sehr unkorrekt ist, aber sie hat ihre Meinung dazu“, erzählt Zink. „Sie denkt, er ist durch seinen Alkohol- und Nikotinkonsum immer mal wieder ein bisschen impotent und will es kaschieren durch diese Behauptung. Und am Schluss des Romans bekommt sie heraus, warum er das so will.“ Zink versteht es, ihre Geschichte anzuteasern. Sie können auch rein politische Romane schreiben, aber das sei eben nicht massenkompatibel.
Ein supertoller Sozialstaat
Und wo fühlt sie sich am meisten zu Hause? „Bei der Frage kriege ich eine Vision von Dingen, die es gar nicht mehr gibt. Die Amis sagen immer ‚you can‘t go home again‘.“ Und Zink will in Deutschland bleiben. „Ich finde es tröstlich, hier in Deutschland Einkommenssteuer zu zahlen. Es ist schön, dass da nicht die Hälfte für Rüstung drauf geht. Deutschland hat einen supertollen Sozialstaat. Jetzt, wo ich mehr zahle, stört mich diese ganze Geschichte mit der EU-Troika, an der ja Deutschland nicht unbeteiligt ist, auch mehr, aber es ist besser als unter Trump. Ich habe neulich irgendwo gelesen, in den USA leben 3,2 Millionen Menschen von weniger als zwei Dollar am Tag, auch viele Kinder, in Deutschland gibt es niemanden, der so leben muss. Da fühlte ich mich ganz stolz.“
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