„Wir sind moralisch“

Interview Die Philosophin Rosi Braidotti renoviert den Humanismus und überlässt das Denken nicht den Amerikanern
Ausgabe 19/2018
Italiener und ihre Esskultur sind unbedingt ein Erfolgsmodell der Migration
Italiener und ihre Esskultur sind unbedingt ein Erfolgsmodell der Migration

Illustration: der Freitag, Foto: Ivar Pel/CC BY-SA 3.0

Eine Identität sei nie eindeutig oder stabil, sagt Rosi Braidotti. Wir können weiß sein, Mittelschicht, Lesbe, je nach Kontext, in dem wir uns befinden. Migranten sind wir alle. Sowieso. Und wir sollten mit dieser Vieldeutigkeit entspannt umgehen.

der Freitag: Sie zitieren in Ihrem Buch öfter Spinoza: „Ich werde frei gewesen sein.“ Für den Philosphen ist Freiheit, die Bedingungen der eigenen Unfreiheit zu erkennen. Was ist Ihnen am Konzept der Freiheit wichtig?

Rosi Braidotti: Es ist die entscheidende politische Frage der Gegenwart. Der Populismus ist überall. Spinoza erlebte im 17. Jahrhundert den Niedergang eines Systems, nämlich den der niederländischen Republik. Als die französischen Philosophen Gilles Deleuze, aber auch Michel Foucault und Toni Negri auf Spinoza zurückgriffen – das war bereits in den 1970ern und 80ern –, sagten sie: Hört zu, Leute, es gibt da ein Problem mit der Demokratie. Wie können wir – unabhängig von der Binarität des Kalten Krieges – die politische Freiheit zur zentralen Frage machen? Heute begehen wir eine Sünde, Freiheit aufzugeben, indem man die Verantwortung an starke Männer abtritt – sei es an Luigi di Maio in Italien, die AfD oder Trump. Das ist das Ende der Freiheit.

Angelehnt an US-Präsident Trumps „America First!“ war der rechtsextreme Politiker Matteo Salvini in Italien im Wahlkampf mit dem Slogan „Italien zuerst!“ angetreten. Sie plädieren dafür, den politischen Kampf von der Basis der eigenen Bedingungen ausgehen zu lassen. Inwiefern ist das anders?

Es ist fast das genaue Gegenteil. Meine „Politik der Verortung“ nimmt Erfahrung ernst. Aber Erfahrung, die ich als verkörpert, eingebettet, verbindend und gefühlsbezogen bezeichne, ist immer kollektiv und gesellschaftlich. Sie ist eine Situation, die wir teilen, ob es um LGBT geht, darum, weiß zu sein oder Mittelschicht, einfach dieselbe Sprache zu sprechen oder dieselbe toxische politische Luft einzuatmen. Nach meinem Sprachgebrauch bewegt sich Erfahrung quer zu verschiedenen Kategorien. Nationalismus ist fremdenfeindlich und per se rassistisch. Als Europäer müssen wir verstehen, wie hybrid wir sind, wie gemischt. Und wenn wir unser eigenes Nomadentum, die Migration, die vielfältigen Querverbindungen nicht verstehen, dann interpretieren wir unsere Situation falsch. Wie wäre es mit: „Wir sind auch Migranten“? Es gibt 60 Millionen Italiener auf der Welt und wir wurden von jedem Land auf der Welt aufgenommen. Wenn wir auf dem Mars landen sollten, wird es dort einen Pizzaladen geben.

Zur Person

Rosi Braidotti, Jahrgang 1954, in Italien geboren, lebte ab dem 16. Lebensjahr in Australien. Sie gilt als Pionierin der Frauen- und Geschlechterforschung. Ihr Buch Politik der Affirmation ist 2017 im Merve Verlag erschienen

Was halten Sie von diesem Identitätspolitik-Bashing, etwa dem Argument, dass die Demokratin Hillary Clinton die weiße Arbeiterklasse vernachlässigt hat?

Das, was heute passiert, erinnert stark an das, was sie damals Postmodernismus nannten. Man warf den französischen Denkern die Entwicklung der Weltwirtschaft vor. Man machte sie zu Sündenböcken. Es hat mich sehr überrascht, dass diese Argumentation sich jetzt wiederholt, indem man Identitätspolitik für alles verantwortlich macht. Ich sage, Identitäten sind transversal, offen, verhandelbar, fließend. Sie sind nicht performativ, sie sind keine Maskeraden, sondern tief in unsere Körper eingeschrieben, in das System jedes Einzelnen, in etwas, das spezifisch für seine Verkörperung ist.

Wie ist es aus Ihrer Perspektive möglich, „wir“ zu sagen?

Das „Wir“ ist ein fortwährendes Aufeinanderzugehen und wird ständig weiterverhandelt. Man ist immer „wir“. Man mag weiblich sein, aber das ist nichts im Vergleich zu den multiplen Variablen, wenn man Intersektionalität, also die Überschneidungen von Diskriminierung, berücksichtigt. Man kann also sagen: wir Lesben, wir Cis-Lesben, wir Post-68-Lesben, wir europäischen Lesben. Man kann die „Wirs“ vervielfachen. Das Entscheidende ist, ein ausreichendes Verständnis der eigenen Verortung herauszuarbeiten, denn man ist nicht am Montag eine Lesbe und am Dienstag weiß und am Mittwoch Professorin. Man ist in den Beziehungen zu anderen Subjekten alle diese Dinge gleichzeitig. Wir sollten unsere Vielfältigkeit entspannt annehmen, anstatt sie so paranoid zu betrachten.

Sie würden aber Bezeichnungen wie „Proletariat“ als nützliche Kategorien nicht ausschließen, um politisch zu agieren?

Im Rahmen der institutionellen Politik müssen wir auf feste Kategorien zurückgreifen: Die Frauenbewegung ist ein Beispiel oder „Black Lives Matter“. Die Institutionen verstehen keine anderen Sprachen. Man braucht diese Kategorien, um etwas zu bewegen. Man muss Prioritäten festlegen, fragen, was genau ist gerade ein dringendes Problem? Wenn das „Wir“ kein vereinigendes Prinzip werden kann, ist das der Zeitpunkt, an dem wir beginnen, uns ernsthaft kritisch mit Subjektivitäten auseinanderzusetzen. Hier bleibe ich voll und ganz Poststrukturalistin.

Lassen Sie uns über Ihr neues Buch sprechen.

Deutschland war mir immer schon ein bisschen ein Rätsel. Ich war eine große Bewunderin des alten deutschen Feminismus – auch dem in der DDR. Nach 1989 wurde das anscheinend alles aufgegeben, nur noch US-amerikanische Theorie importiert. In anderen Ländern war diese Tendenz nicht so stark. Mein Buch wendet sich gegen den aktuellen Nihilismus, gegen die Demokratiemüdigkeit. Affirmation ist sehr provokativ – ein wirklich sehr gutes Konzept.

Warum heißt das Buch nicht „Ethik der Affirmation“?

In spinozistischem Sinne ist es die Ethik, die die Politik hervorbringt, aber Politik ist notwendig, um die Ethik umzusetzen. Spinozistische Ethik ist eine Praxis, die davon ausgeht, dass Beziehungen veränderlich sind, wobei man Angst, Schmerz, Negativität, Verzweiflung, aber auch Träume und Hoffnungen mit der Vielfalt anderer Subjekte verarbeitet. Es geht darum, ständig ein „Wir“ zu konstruieren, ein „Uns“, eine Gemeinschaft.

Links zu sein bedeutet, sich selbst als mit anderen verbunden zu verstehen, oder?

Es gibt in der Linken ein Gefühl von Humanismus. Eine neue Humanität – frei von Unterdrückung, Ausbeutung, Rassismus – ist der Traum der Linken. Spinozas Politik hängt die Latte niedriger. Sie ist in gewisser Weise bescheidener. Ja, wir haben eine Reihe von gemeinsamen Voraussetzungen. Wir sind menschlich, wir sind moralisch. Aber die Unterschiede zwischen uns sind es, die wir in den Blick rücken müssen. Wir müssen das Gleichgewicht wiederherstellen.

Was ist falsch am Humanismus?

Posthumanistin zu sein bedeutet nicht, gegen Humanismus zu sein. Mein Punkt ist, dass wir den Humanismus neu überarbeiten müssen. Die Rolle der Wissenschaft, die Rolle der Technologie, die Rolle des Wissens bei der Produktion des Horrors – da gehen die deutsche und die französische philosophische Debatte komplett auseinander. Nach dem Krieg wurde Deutschland als Teil des Entnazifizierungsprogramms auf amerikanisches Denken umgeschult. Großen Einfluss nahm die amerikanische Sozialtheorie, deren moralischer und geistiger Hüter Habermas wurde. Er hat immer argumentiert, dass Faschismus möglich war, weil Europa irgendwie die Vernunft abhandenkam. Wir sind verrückt geworden. Er hat nie etwas auf die Vernunft kommen lassen. Ganz anders die Franzosen. Sie hielten den Faschismus nicht für einen Moment kollektiven Wahnsinns, sondern für ein politisches System, das systematisch erzwungen wurde. Rationalität als Brutstätte des Horrors. Dabei führt dieser Standpunkt nicht zu Nihilismus oder Relativismus, er produziert nur eine andere Ethik. Humanismus bedeutete im 18. Jahrhundert, mit der Bibel in der einen Hand und Kanonen und Schwertern in der anderen Hand in die Welt zu ziehen. Sehen die Leute diesen Zusammenhang? Als im Jahr 2018 lebender Mensch kann ich nicht an diese Tradition anknüpfen, ohne sie kritisch zu betrachten und daraus Empathie und Solidarität für heute abzuleiten.

Rosi Braidotti spricht am 24. Mai im Berliner HKW in der Reihe „Wörterbuch der Gegenwart“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden