Die Buchhandlung "Shakespeare and Company" liegt an der Rive Gauche, dort, wo sich an diesen Abenden der Geruch des ölschwarzen Wassers mit der heraufziehenden Winternacht, dem Stimmengewirr der Bistros und der Straßenmusik zu einem dichten Großstadtgemälde mischt. Metroausgänge spucken Touristen und Studenten in die Gassen des Quartier Saint Michel, die Türme von Notre Dame stützen tiefhängende Regenwolken.
"Ich lese gerade D. H. Lawrences Lady Chatterly's Lover", sagt die amerikanische Literaturstudentin Alex, die erst vor fünf Tagen aus New York gekommen ist, "mein Vorbild ist Virginia Woolf." Ein dichter Pony fällt ihr ins Gesicht, ihre Stimme ist warm und dunkel. Das US-Magazin The Nation hat einige ihrer Texte gedruckt. Jetzt will sie nach Paris ziehen, vielleicht für lange. Eine Freundin hat ihr von diesem besonderen Buchladen erzählt, nun ist sie Gast, schläft nachts zwischen den Regalen, hilft tags beim Verkauf.
Hinter der Kasse hängen Fotos und Manuskriptseiten, darüber ein Messingleuchter mit verschiedenen Glühbirnen. Ein Plakat wirbt für eine Posterausstellung im Paris des 19. Jahrhunderts, ein weiteres für ein Kinderbuch von Ted Hughes. Über den dunkelblau lasierten Heizkörpern: Sophie Valadon, Doris Lessing, John Updike. Ältere Bücher haben rote, goldverzierte Rücken, neue sind noch in Folie verschweißt. Postpakete des "Book Point" und anderer Versandhäuser stapeln sich hüfthoch, ein Locher ist zu Boden gefallen, ausgestanzte Papierkreise und Sägespäne liegen auf dem ziegelroten Naturstein verstreut. An der Schreibtischschublade fehlt der Knauf. Alles shabby. Alles sehr chic.
Sie beschloss, eine Pariserin zu werden
"Wenn du das Glück hattest", soll Ernest Hemingway einst zu einem Freund gesagt haben, "als junger Mensch in Paris zu leben, dann trägst du die Stadt für denn Rest deines Lebens in dir, wohin du auch gehen magst." Manche bleiben gleich hier. Im Paris der Zwischenkriegszeit eröffnete die Amerikanerin Sylvia Beach einen "Bookshop" nach englischem Vorbild an der Rue de l'Odéon. Das "Dröhnen der Kanonen" hatte die junge Frau immer wieder in den Buchladen ihrer Freundin Adrienne Monnier getrieben, wo sich französische Autoren zu Lesungen am Kamin einfanden, wird sie viel später in ihren Lebenserinnerungen schreiben. Sylvia, die zunächst noch eine französische Librairie in New York aufmachen will, beschließt, "eine Pariserin zu werden. (…) Wie ich wusste, waren die Franzosen sehr scharf auf unsere neuen Schriftsteller, und ich hatte den Eindruck, ein kleiner amerikanischer Buchladen am linken Seine-Ufer würde recht willkommen sein."
Ein Geschäft ist schnell gefunden und renoviert, und Nacht für Nacht empfängt sie darin die jungen, im Krieg ihrer Furcht beraubten Literaten der "Lost Generation", bietet ihnen Anlaufstelle und Übernachtungsmöglichkeit. Sylvia Beach beherbergt Eszra Pound und T.S. Eliot. Ernest Hemingway wird sie seinerseits gegen Kriegsende "in Felduniform, schmutzig und blutig" vor den Strassenschießereien der Nazis schützen. Und in "Paris - ein Fest fürs Leben" schreibt er zwischen zwei Flaschen St.-James-Rum schwärmerisch über Sylvias "lebhaftes, scharf geschnittenes Gesicht, (ihre) Augen, die so lebendig waren wie die eines kleinen Tieres und so vergnügt wie die eines jungen Mädchens, und (ihr) welliges braunes Haar".
Sylvia Beach wird den Mut besitzen, James Joyces Ulysses erstmals zu verlegen, und das Mitgefühl, mit Eisbeuteln gegen seine Iritis, eine schmerzhafte Augenentzündung, anzukämpfen – bis sie unter dem Druck der Nazis ihren kleinen Laden schließen muss. 1951 kauft der junge Bostoner Buchhändler George Whitman ein altes Kloster aus dem 17. Jahrhundert an der Seine, und 1964 die Rechte am Namen "Shakespeare". "Sei nett zu Fremden", steht in großen Lettern auf Englisch über dem Türbalken, "sie könnten verkleidete Engel sein". Noch am Eröffnungstag lässt er erneut junge Schriftsteller übernachten.
"Heute bleibt George Whitman meist in seinem Zimmer", erzählt Adam, ein 26-jähriger Kanadier, der Psychologie studiert und dann zwei Jahre in Südkorea unterrichtet hat. In Paris sucht er eine Stelle als Englischlehrer. "Ich habe ihn nur ein paar Mal gesehen, aber - was für ein Charakter!" Vor drei Wochen kam Adam nach Paris, geriet zufällig in die Buchhandlung, fragte nach Arbeit und blieb über Nacht. Um viertel vor zehn steht er täglich auf, um halb elf zieht er los, meist auf Wohnungssuche, manchmal ins Museum. Dann schreibt er kleine Geschichten für Schulbücher, jeden Monat etwa 30 Stück.
500 Euro verdient er damit, in Paris bereits die Durchschnittsmiete für ein winziges WG-Zimmer am Stadtrand. Wie Alex hat er gutsituierte Eltern - Alex' Vater ist Anwalt, Adams ein pensionierter Arzt - und wie sie nimmt er ihre finanzielle Unterstützung nicht an. Besser als George kennt er dessen Tochter Sylvia (benannt nach Sylvia Beach), seit drei Jahren Inhaberin von Shakespeare "Sie ist momentan so etwas wie mein Boss."
Registrierkassen und ein Literaturfestival
Sylvia Whitman ist zierlich, blond, empfängt Besucher mit einem fröhlichen "Hi, Bonjour", streckt die Hand aus, stellt mit der anderen umgefallene Bücher wieder auf, berät Kunden, gibt dem Personal Anweisungen. Gäste führt die 28-Jährige in die Wohnung ihres Vaters im Obergeschoss. George, heute 96, sieht man höchstens im Pyjama über die steilen Treppen gen Laden huschen, oder, noch weit weniger bekleidet, durch seine Küche, in Richtung Kühlschrank. "Meine Kindheit war ein Märchen", sagt Sylvia Whitman, "oft haben mir Schriftsteller Geschichten erzählt oder vorgelesen."
Mit sechs Jahren hat sie ihre Mutter nach England mitgenommen, wo Sylvia später auch Theaterwissenschaften und Geschichte studiert hat. Vor fünf Jahren ist sie nach Paris zurückgekehrt, mit vagen Erinnerungen an eine vergangene Zeit im Gepäck. Heute spricht sie in bestimmtem Ton vor allem über die Zukunft ihrer "Company": Shakespeare muss sich von den anderen 1200 Buchhandlungen in Paris unterscheiden, bewahren, und sich doch erneuern. Die junge Chefin hat Computer eingeführt, Registrierkassen und ein Literaturfestival, das alle zwei Jahre stattfindet. Im Jahr 2008 hat Paul Auster hier gelesen, Amélie Nothomb, Catherine Millet.
Doch bis heute lässt Sylvia auch junge Schriftsteller auf den harten Matratzen schlafen, die sie tags mit rotem Panneesamt abdeckt. Zwei Stunden jeden Tag müssen sie im Laden mitarbeiten, Bücher hinaus- und abends wieder hineinräumen helfen, das ist der Deal. Dann gehen sie ins gegenüberliegende Schwimmbad, zum duschen. "Ich habe nur zwei schlechte Erfahrungen in den letzten fünf Jahren gemacht, Leute, die bloß den Eiffelturm sehen wollten. Die hätten sich besser ein Hotel genommen. Wer dagegen kommt, um von Büchern umgeben zu sein, ist hier richtig."
Jeder Schriftsteller hinterlässt ihr eine Din-A-4-Seite mit Schilderungen seines Aufenthaltes, mancher mehr: Ein schwarzer Hund, Colette, hat sich hinter Sylvia auf dem Korbstuhl zusammengerollt, eine weiße Katze streift um ihre Beine. "Ein echter Zoo", sie lacht, streicht über den schweren, matten Hundekopf, der sich gerade auf ihren Arm gelegt hat. Der Welpe war das Geschenk eines Kunden. "Anfangs war ich genauso alt wie die Auroren. Sie hier zu empfangen und zugleich Verantwortung für den Laden zu übernehmen, war nicht immer einfach." Manche kommen Jahre später zurück, viele erzählen, dass "sie damals Schriftsteller werden wollten, es aber leider nicht geklappt hat." Andererseits: "Paris ist eine herausfordernde Stadt für Literaten. In Paris werden Autoren sehr respektiert, ähnlich wie Philosophen. Fast alle englischen Schriftsteller, die ich hier treffe, erzählen mir, dass eigentlich Paris "ihr" Planet ist, dass sie hier leben möchten. Wir beherbergen allerdings nur die jungen, mittellosen."
Before Sunset
Eine Treppe, die in der Nacht knarrt, führt in den ersten Stock, den "Smokey Old Tea Room". Nach Rauch riecht es hier oben nicht, doch nach Papier, nach altem Leder. Um viertel vor elf schließt der Verkaufsbetrieb. Nachts gibt es Wein, und Gespräche über die Zukunft: Junge Poeten haben es nicht leicht, in Zeiten der Finanzkrise, erfährt man - und denkt unwillkürlich zurück an jene immerhin kriegsgeprägte Generation, die einst Sylvia Beach beherbergte und die es sicher erst recht nicht leichter hatte als diese „Broke Generation“ hier. Oder? "Ach, wir reden über "life things"", erklärt Alex, "in den USA musst du ständig kurze Artikel verkaufen, um große schreiben zu können. Trotzdem kannst du fast nie davon leben, weil es immer weniger Magazine und Zeitungen gibt."
Doch für Realismus ist hier ohnehin nicht der richtige Ort, für Leidenschaften dafür umso mehr: Im Film Before Sunset schläft Ethan Hawke in der Rolle eines 32-jährigen Autors Wallace auf einer der Pritschen – eine Nacht, die ihn tags darauf in Stande setzt, seiner seit Jahren verloren geglaubten Jugendliebe den Unterschied zwischen Romantiker und Zyniker so plausibel vor Augen zu führen, bis sie bereit ist, ein neues, gemeinsames Leben zu beginnen. An einem kleinen Waschbecken, zum Zähneputzen reicht es, liegt ein abgebrochenes Stück Seife. Auf einem Regalbrett: ein kleiner Wecker. Auf einer der Matratzen: ein müder Dichterkopf, der so früh sicher nicht mit Besuch gerechnet hat. Pardon.
Am Sonntag öffnen die grünen Läden der Company erst nachmittags. Im Fenster steht jetzt ein dunkelroter Band des Bohemian Paris of today. Ein junger Mann mit geringeltem Schal blättert sich durch Bram Strokers Dracula, er stellt seine Gitarrentasche ab, hängt sich den übergroßen Kopfhörer um den Hals, legt dann das Buch neben einen Stapel mit Sylvia Plaths The Bell Jar. Eine Frau um die dreißig, schwarz gekleidet, feuerrote Strumpfhose, Schmetterlingsbrille, fragt in akzentfreiem Englisch nach der Möglichkeit, ein paar Tage mitzuarbeiten. Vier Kinder mit klebrigen Eiswaffeln in den Händen ziehen ihre Mutter ins Geschäft, eine ältere Dame in grobem Tweed bleibt stehen: "Oh, that's where it is!"
Ob die junge Schriftstellergeneration noch etwas gemein hat? "Die Zeit der Lost Generation ist nicht zu wiederholen, das war eine außergewöhnliche Epoche in der Pariser Stadtgeschichte", antwortet Sylvia Whitman bestimmt. "Zugleich ist momentan alles so groß geworden, so vernetzt, dass auch heutige Autoren gemeinsame Ängste haben: Die Angst, sich in einer unsicheren, globalisierten Welt zu verlieren." Ein gemeinsames Thema hätten sie nicht mehr, "aber sie sind doch besonders: neugierig, unsicher, suchend. Das prägt ihren Stil, kurze, abgehackte Sätze. Ob jemals eine gemeinsame Stimme daraus wird, wird sich in zwanzig Jahren zeigen." Zurück in den Gassen von Saint Michel, pladdert der kalte Regen aufs Kopfsteinpflaster. "Ich muss einfach schreiben", hatte Alex noch betont, "wie sollte ich so jung auch schon aufgeben?"
Shakespeare and Co., 37 Rue de la Bûcherie, Paris Ve, Öffnungszeiten: 10-23 Uhr
The Shakespeare and Company Literary Festival: Storytelling, Politics and The Imagination, 18-20 Juni 2010
Ernest Hemingway, Paris Ein Fest fürs Leben, Rowohlt, München, 2004 (5. Aufl.), 192 S., 7,95 Euro
Sylvia Beach, Shakespeare und Company - ein Buchladen in Paris, Suhrkamp, Frankfurt a. Main, 2005 (8. Auflage), 247 S., 9 Euro
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.