Aufgrund der #MeToo-Debatte werden auch hierzulande die Rufe nach stärkeren Institutionen zum Schutz vor sexueller Belästigung lauter. Dabei stellt sich die Frage: Wie viel Macht sind wir bereit, an Institutionen abzugeben, im Tausch gegen ein vermeintliches Sicherheitsversprechen? Ein Buch, das letztes Jahr in den USA erschienen ist, könnte sich hier als möglicher Ratgeber erweisen: In Unwanted Advances („Ungewollte Avancen“) wirft die feministische Film-Professorin Laura Kipnis einen kritischen Blick auf die „sexuelle Paranoia“ an US-amerikanischen Hochschulen. Ihre erfrischend nüchterne Studie ist ein Lehrstück über die Risiken und Nebenwirkungen institutioneller Machtinstrumente im Kampf gegen sexuelles Fehlverhalten.
Im aufgeheizten Klima gegenwärtiger Debatten ist das Wort „Hexenjagd“ zum Kampfbegriff geworden – verwendet von denjenigen, die sich durch die Enthüllungen rund um #MeToo auf die Füße getreten fühlen. Wenn Kipnis gleich zu Beginn ihrer Studie einen Vergleich zu Arthur Millers Theaterstück von 1953 zieht, hat sie damit anderes im Sinn. Ihr geht es um die Analyse der Angst als eines politischen Akteurs in der Strafverfolgung. Ob in Salem, der McCarthy-Ära oder auf dem Campus: Die Vermischung von Affekt und Justiz bringe das zum Vorschein, was sie die „autoritäre Schattenseite“ von Gefühlen nennt. Damit meint sie, dass Emotionen sich weder hinterfragen noch widerlegen lassen. In Sicherheitsgesellschaften werden sie deshalb zu einem unschlagbaren Legitimationsgrund für die Expansion institutioneller Macht.
Banane und Bedrängnis
Ins Zentrum ihrer Analyse stellt Kipnis den institutionellen Umgang mit sexuellem Fehlverhalten und sexueller Diskriminierung an Hochschulen im Rahmen sogenannter Title-IX-Verfahren. 1972 in Kraft getreten, waren die ursprünglich dazu bestimmt, weiblichen Athleten gleiche Teilhabe am Hochschulsport zu sichern. Erst 2011 wurde der Geltungsbereich auf jegliche Fälle sexuellen Fehlverhaltens ausgedehnt. Gleichzeitig wurde die notwendige Beweislast für eine Verurteilung drastisch herabgesetzt. Schuld ist nun nicht mehr gegen jeden Zweifel zu beweisen, sondern nach dem Prinzip des „preponderance of evidence“ (Übergewicht an Beweisen), was praktisch bedeutet: Im Zweifel entscheidet eine Wahrscheinlichkeit der Schuld von 50 Prozent „plus das Gewicht einer Feder“.
Inwieweit diese Neuerungen einen Missbrauch des Gesetzes strukturell ermöglichen, lässt sich statistisch schwer belegen. Über falsche Verdächtigungen existieren keine Zahlen, auch weil die Verfahren in der Regel strenger Geheimhaltung unterliegen. Eine glückliche Ausnahme ist der Fall des ehemaligen Philosophie-Professors Peter Ludlow, dem Kipnis rund die Hälfte ihres Buches widmet. Er wurde 2014 angeklagt, eine Studentin überredet zu haben, bei ihm zu übernachten. Eine zweite Anzeige warf ihm vor, er habe eine nicht- einvernehmliche Beziehung mit einer weiteren Studentin geführt. Da Ludlow nach seiner Verurteilung keine der üblichen Verschwiegenheitserklärungen unterschrieb, konnte Kipnis einen seltenen Blick ins Innere der sonst im Dunkeln agierenden Verurteilungsmaschine werfen. Im Laufe ihrer minutiösen Rekonstruktion, die sich so spannend liest wie eine True-Crime-Story, wird aus dem scheinbar eindeutigen Fall ein komplexes Gefüge aus voreingenommenen Ermittlern, intriganten Kollegen, Eifersuchtsdramen und Rachefantasien.
Der Fall Ludlow wird bei Kipnis zu einem Kippbild, das uns ermahnt, in der Bewertung von Geschlechter- und Machtverhältnissen nicht vorschnell in gängige Klischees zu verfallen. Denn Macht ist hinter den Kulissen oft anders verteilt, als es zunächst den Anschein haben mag. Ebenso wie die vermeintlich Ohnmächtigen nicht davor gefeit sind, aus niederen Beweggründen zu handeln. In diesem Punkt zeigt Kipnis sogar Verständnis: In einem hochgradig kompetitiven Betrieb wie dem Hochschulwesen mit seinen prekären Beschäftigungsverhältnissen und unsicheren Jobaussichten seien Rachegelüste gegenüber Professoren durchaus nachvollziehbar. Insofern ist der Mikrokosmos, den Kipnis unter die Lupe nimmt, vielleicht symptomatisch für die derzeitigen #MeToo-Enthüllungen. Offensichtlich sind gerade Hochleistungsinstitutionen wie Universität, Filmbetrieb oder Leistungssport ein Nährboden für den Missbrauch von Macht – in die eine wie die andere Richtung.
Vorwerfen ließe sich Kipnis, dass die selektive Auswahl ihrer Fallbeispiele ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit zeichnet. Analog zur Logik des Hashtags, der nur Gleiches zu Gleichem addiert, versammelt sie ausschließlich Falschanzeigen. Streckenweise liest sich ihre Studie deshalb wie ein Kuriositätenkabinett menschlicher Fehlurteile. Zum Beispiel der Fall eines Tanzlehrers, der scherzend zu einer Schülerin im Bananenkostüm gesagt haben soll, er wollte schon immer der Partner einer Banane sein. Er meinte: Tanzpartner. Sie dachte anderes. Oder der Fall einer Professorin, der vorgeworfen wird, sie hätte sich einer Studentin „verdächtig“ genähert und ihr ins Ohr geflüstert. Clou der Geschichte: Die Szene ereignete sich in einer Bibliothek, wo Ins-Ohr-Flüstern eine recht gängige Kommunikationsform ist.
Dennoch steht Kipnis keinesfalls auf der Seite der Sexismus-Leugner. Sie ist bekennende Feministin und begreift sexuelle Übergriffe als ernstes Problem. Ihr kritischer Blick gilt der Frage nach geeigneten Mitteln, um dagegen vorzugehen. Dass sie damit an keiner der beiden hochgerüsteten Debatten-Fronten zu verorten ist, hat Kipnis jüngst mit einem Beitrag im Guardian bewiesen. Auf die Frage, ob #MeToo zu weit gehe oder nicht weit genug, antwortete sie dort: Sowohl als auch! Ganz in diesem Sinn ist auch Unwanted Advances eine Einladung zur Differenzierung, der zu folgen sich lohnen würde. Denn in Fragen des Sexismus gibt es nicht nur ein Dafür und ein Dagegen. Es ist kompliziert.
Info
Unwanted Advances: Sexual Paranoia Comes to Campus Laura Kipnis Harper 2017, 21,98 €, E-Book ab ca. 10,60 €
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