In einer Leistungsgesellschaft leben wir – und das ist auch gut so. Zumindest, wenn’s nach Thomas de Maizière geht, der letztes Jahr die „Leistungskultur“ zu unserer Leitkultur erklärte. Die Grüne Jugend reagierte erwartbar: Das Leistungsprinzip verdiene keinen Stolz. Nina Verheyens Die Erfindung der Leistung will dagegen weder ein Loblied auf die Leistung singen noch pauschal Kritik üben. Ihre historische Studie versteht sich als Ehrenrettung eines sozialen Leistungsbegriffs. Eine Bedeutungsdimension, die im 19. Jahrhundert vom Mythos der individuellen Leistung überlagert wurde und die es laut Verheyen freizulegen gilt – nicht zuletzt, um ihr politisches Potenzial zu ergründen.
Dazu blickt Verheyen zunächst auf die Ebene der
auf die Ebene der Leistungsgefühle und Leistungspraktiken, wo sie gewisse historische Kontinuitäten auszumachen glaubt. So gilt ihr eine um 1900 geführte Debatte um steigende Selbstmordraten unter Schülern als Indiz, dass Leiden unter Leistungsdruck keine Erfindung des Neoliberalismus ist. Auch in damals entstehenden Praktiken der Leistungsbewertung erkennt sie zweischneidige Mechanismen, die bis heute wirken: Die leistungsorientierte Regelung von Aufstiegsmöglichkeiten solle zwar zu mehr Gleichberechtigung führen. Wie Verheyen am Beispiel von Schulnoten und IQ-Tests zeigt, sind die scheinbar objektiven Bewertungskriterien jedoch meist so angelegt, dass sie soziale Ungleichheit legitimieren und reproduzieren.Ein nächster Teil setzt auf historische Diskontinuitäten im Wortgebrauch. Erste Station sind bürgerliche Tugenddiskurse um 1800. Als sittlich-moralische Kategorie beziehe sich Leistung hier weniger auf das Individuum und seine Produktivität denn auf einen wechselseitigen Dienst an der Gemeinschaft, der auch Formen der Geselligkeit einschließt. An dieser Stelle und damit leider recht spät verrät Verheyen in einem etymologischen Exkurs: Das Verb „leisten“ stammt vom germanischen Wort für (Fuß-)Spur und meint ursprünglich das Befolgen eines Gebots oder die Erfüllung einer Schuld. Eine Bedeutung, die sich vor allem im Recht fortschreibt, wo Leistung die gegenseitigen Verpflichtungen von Vertragspartnern bezeichnet. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts taucht der Leistungsbegriff in seiner kapitalistisch-ökonomischen wie physikalisch-technischen Bedeutung auf. Wegbereiter dafür sei ein veränderter Arbeitsbegriff des Philosophen und Ökonomen Adam Smith, der die gesellschaftlich-moralische Bedeutung der Arbeit zugunsten ihres ökonomischen Wertes zurücktreten lässt. Zudem rückte das mechanistische Körperbild der neu entstehenden Physiologie Mensch und Maschine in ein gegenseitiges Abbildverhältnis. Seither erscheint die „Arbeitsleistung“ von Menschen wie Motoren in der Formel „Arbeit pro Zeit“ als berechenbare Größe und wird zunehmend den Prinzipien von Effizienz, Leistungssteigerung und -kontrolle unterworfen.Düstere Auswüchse zeigt der „Wille zur unbedingten Leistungssteigerung“ in der NS-Ideologie. Für die nationalsozialistische „Leistungsgemeinschaft“ gilt die Grenze menschlicher Leistungsfähigkeit nicht mehr als biologisch gegeben, was Verheyen auf die Entdeckung der Hormone zurückführt. Vor dem Hintergrund dieses neuen Körperbildes wurden bereits ab den 1920ern leistungssteigernde Substanzen entwickelt, die sich im Dritten Reich schließlich breiter Beliebtheit erfreuten. Ein Beispiel ist das Präparat Pervitin, das auch als Beimischung einer handgeschöpften Schokolade aus den Hermann-Göring-Werken erhältlich war. Dahinter verbirgt sich das erste Methamphetamin, besser bekannt unter dem Namen Crystal Meth.Vier minusVerheyens Parforceritt zeigt: Nicht überall, wo Leistung draufsteht, ist das Gleiche drin. Eine gewisse Unentschiedenheit im argumentativen Aufbau – der mal chronologisch, mal thematisch angelegt ist – macht es zuweilen schwer, der Begriffsbewegung zu folgen. Widersprüche im Wortgebrauch entstehen mitunter dann, wenn sich historische Beschreibung und Gegenwartsdiagnose überblenden. So behauptet Verheyen zwar zunächst, das Bürgertum könne nicht als Entstehungsort des modernen Leistungsdenkens gelten, da dies „sprachlich ahistorisch“ sei. Dann aber soll das Prinzip der Wechselseitigkeit ebendieses bürgerlichen Leistungsbegriffs begründen, warum staatliche Transferleistungen nicht im Widerspruch zum Leistungsprinzip unserer Zeit stehen.Am Ende fordert Verheyen, die Unschärfe des Leistungsbegriffs hinzunehmen. Unscharfe Begriffsarbeit ist damit allerdings nicht zu rechtfertigen. Auch ihre abschließende Kritik, im Zuge der Kritik am ökonomischen Leistungsprinzip ginge der „Glaube an Leistung“ und ihre soziale Bedeutung verloren, erweist sich als normative Setzung, was mit einem historisch-deskriptiven Ansatz nur schwer vereinbar ist. Und das politische Potenzial der Leistung? Der Vorschlag, sich in alltäglichen Praktiken – vom Trinkgeldgeben bis zum Bewerbungsgespräch – gängigen Bewertungskategorien zu entziehen, fällt angesichts der Thematik recht dürftig aus. Hier bleibt noch einiges zu leisten.Placeholder infobox-1Placeholder infobox-2Placeholder authorbio-1