Der Mann im eleganten dunklen Anzug sagt „Sie werden bereits erwartet“ und weist einen Mitarbeiter in grüner Weste und weißer Schürze an, mich an meinen Tisch zu bringen. Es ist ein gewöhnlicher Mittwochabend im November und in dem großen, gediegenen Gasthaus mitten in Wien kümmern sich gleich drei Personen um den Empfang der Gäste.
Im Wesentlichen bedeutet das, Bittsteller ohne Reservierung charmant, aber kompromisslos abzuweisen sowie diejenigen mit einem bestellten Tisch auf das Höflichste zu begrüßen und an ihren Platz zu geleiten. In regelmäßigen Abständen wird zudem der Eingangsbereich mit einem mechanischen Staubsauger gereinigt und der Messingbeschlag an der Türe mit einem blütenreinen weißen
eißen Tuch von Fingerabdrücken befreit. Das Haus rühmt sich, die wienerische Rindfleischküche wenn auch nicht erfunden, so doch zumindest für ihre Renaissance gesorgt zu haben, und eine ganze Kompanie von Kellnerinnen und Kellnern trägt riesige Tabletts mit Tafelspitz, Rösterdäpfeln und Apfelkren durch die Hallen. Ich schaffe es während des Besuchs nicht, mich selbst aus den unzähligen Kasserollen und Töpfchen zu bedienen – jedes Mal steht plötzlich ein Kellner hinter mir, der mir dezent, aber bestimmt das Besteck entwindet und formvollendet meinen Teller füllt.Personalmangel scheint hier also auf den ersten Blick eine unbekannte Vokabel zu sein. Während man in Deutschland vor lauter Zetteln mit der Aufschrift „Gesucht!“ kaum noch durch die Fenster der Restaurants blicken kann, ist hier schon die Anzahl der anwesenden Kellnerinnen und Kellner beeindruckend – einmal ganz abgesehen von ihrer Professionalität. Doch der Schein trügt, auch in Österreich ist das Personal knapp, auch im Nachbarland fehlt es an qualifizierten Kräften in Küche und Gastraum.Über die Gründe kann, ganz wie auch bei uns, nur spekuliert werden. Zu viele haben die Betriebe während der Lockdowns verlassen und zu wenige sind nach dem Ende der Maßnahmen wieder zurückgekehrt. Wie bei uns ist die Krise zu einem Teil hausgemacht – steile Hierarchien, unflexible Arbeitszeiten, schlechte Bezahlung und fehlende Perspektiven haben das Berufsbild unattraktiv werden lassen. Da ist auch die im Mai 2022 von den Gewerkschaften im neuen „Kollektivvertrag“ erreichte Einkommenssteigerung von 3,7 Prozent für das Hotel- und Gastgewerbe eher ein Tropfen auf den heißen Stein.Und trotzdem fühlt es sich anders an. Denn auch wenn nicht überall so viel Personal im Einsatz ist wie an diesem Abend – ausgebildete Fachkräfte sind nach wie vor ein Eckpfeiler der österreichischen Gastronomie, egal ob im traditionellen Kaffeehaus, im schlichten Beisel oder eben in der gediegenen Gastwirtschaft. Der Unterschied liegt dabei weniger in konkreten Zahlen auf dem Gehaltszettel als vielmehr in einer abstrakten, kulturellen Größe – der allgemeinen Wertschätzung des Berufs. Während bei uns ausgebildete Fachkräfte eher im kulinarisch und preislich gehobenen Segment zu finden sind, ist für die allermeisten Österreicherinnen und Österreicher ein Alltag ohne Oberkellner offensichtlich nach wie vor kaum denkbar.„Ganz schön viel los heute Abend“, sage ich beim Bezahlen zu „meinem“ Kellner, „wie viele Plätze habt ihr hier eigentlich?“ „Genug, um zu schwimmen“, sagt er salopp und die schnelle Antwort lässt erkennen, dass ich nicht der Erste bin, der diese Frage stellt. „Vor Corona waren es 300“, sagt er und in seiner Stimme schwingt plötzlich unverkennbar ein gewisser Stolz mit. Diese Zahl habe man noch nicht ganz wieder erreicht, aber man sei nahe dran. Dann ist er auch schon wieder weg.