Die Luftangriffe von Briten und Amerikanern auf Ziele im Südirak häufen sich. Mutmaßlich das Vorspiel für einen Krieg, mit dem Zehn- oder Hunderttausende Iraker, deren einziges Vergehen darin besteht, Iraker zu sein, mit einem Federstrich des US-Präsidenten zum Tode verurteilt werden. Eine Anmaßung jenseits zivilisatorischer Maßstäbe. Wer dabei als Staat mittut, wird zum Mittäter.
Überdimensional groß wirkt das Präsidenten-Porträt am Portal zum städtischen al-Mansur-Hospital in Bagdad. Es zeigt Saddam Hussein, der liebevoll das Haar eines Kindes streichelt. Auf einem anderen Plakat ein paar Schritte weiter kommt er mit einer großen Schüssel Reis daher - als Patriarch und Ernährer seine Volkes lässt sic
es lässt sich der Diktator gern und häufig darstellen. Doch die Realität sieht anders aus. Irak leidet unter dem strengsten Embargo, das die Vereinten Nationen je gegen ein Land verhängt haben. Der Erzvater Saddam kann sein Volk weder ernähren, geschweige denn vor einem möglichen Angriff schützen. Zwölf Jahre Sanktionen haben ein im arabischen Raum ehemals hoch entwickeltes Land zum alimentierten Paria-Staat degradiert, in dem es sogar zum Luxus geworden ist, regelmäßig eine Schule zu besuchen - Kinder werden heute zuallererst gebraucht, um ihre Familien durchzubringen.Eine ganze Generation verliert den Anschluss an den Rest der Welt. Weder Lehrbücher, noch wissenschaftliche Publikationen finden einen Weg durch die Schleusen des Embargos, kaum jemand kennt das Internet oder eine Digitalkamera. Besonders entsetzlich aber ist die Tatsache, dass als Folge der Einfuhrverbote - so UNICEF und Caritas International - Monat für Monat 5.000 Kinder den Kampf gegen den Tod verlieren. Und das, obwohl der Krieg gegen Amerikas "Schurkenstaat Nummer 1" offiziell noch gar nicht begonnen hat. Äußerlich macht das Al-Mansur-Hospital, das vor dem Golfkrieg 1991 als eines der modernsten Kliniken des Landes galt, noch einen relativ makellosen Eindruck, aber die sandsteinfarbene Fassade des stattlichen Hochhauses täuscht. Im Inneren bröckelt der Putz, vergeblich hält man nach Reinigungspersonal Ausschau. "Viel zu teuer für unseren Etat", wie der junge Arzt Saad Mahmud, der mich begleitet, verschämt bemerkt. Gastarbeiter aus Ägypten oder Jordanien, die früher gern in einen wohlhabenden Irak gingen, bleiben seit Jahren aus. Auch der Arzt selbst wohnt inzwischen im Spital, eine eigene Wohnung kann er sich von seinem monatlichen Salär nicht leisten.Mit dem Rundgang über die düsteren Stationen des Krankenhauses beginnt das Grauen. Leidende Kinder und verzweifelte Mütter, die wochenlang mit versteinerter Miene an den Betten ausharren. Fast immer heißt die Diagnose in dieser Abteilung Leukämie - erfolgreiche Behandlungen schließen die vorhandenen medizinischen Möglichkeiten aus. Den sprunghaften Anstieg von Erkrankungen dieser Art führt man im Al-Mansur-Hospital auf die Verwendung von Munition zurück, die mit Uran abgereichert war und als depleted uranium von den Amerikanern während des Golfkrieges von 1991 eingesetzt wurde. Tatsächlich haben Wissenschaftler nachgewiesen, dass in jenen Regionen, in denen am häufigsten die inzwischen von den UN geächtete Munition verschossen wurde, der Anteil von Kindern mit Krebserkrankungen und Missbildungen um ein Vielfaches gestiegen ist. Allein in der Gegend um Basra, im Süden, treten heute fünfmal mehr Leukämiefälle auf, als das vor dem letzten Golfkrieg der Fall war. Während früher die erste Frage einer Mutter an den Arzt lautete, ob ihr Neugeborenes ein Junge oder Mädchen sei, lautet sie heute: "Ist das Kind normal oder nicht?" Über 300 Tonnen des radioaktiv belasteten Waffenmülls schlummern im Boden des Irak und verseuchen das Trinkwasser - inzwischen eine der häufigsten Todesursachen hier.Zwar wird von westlicher Seite Bagdad immer wieder vorgeworfen, das Embargo für Propagandazwecke zu instrumentalisieren, indem die Sanktionen als inhuman an den Pranger gestellt werden, doch abstrahiert eine solche Sicht von der Praxis des "Oil for Food"-Programms. Es erlaubt den Irakern, eine begrenzte Menge an Erdöl auszuführen, um im Gegenzug dafür Nahrung und Medikamente zu importieren. Trotz allen Schönredens verhindern die dabei üblichen Restriktionen aber nach wie vor die Einfuhr lebensnotwendiger Pharmazeutika und medizinischen Equipments. Fast immer argumentiert das UN-Sanktionskomitee in New York, es handele sich bei den Hilfslieferungen um sogenannte Dual Use-Güter, also Waren, die für den Bau von Waffen zweckentfremdet werden könnten. Es ist möglich, die Embargokriterien derart rigoros zu handhaben, dass selbst einfache medizinische Plastikbeutel unter die Ausschlussklausel fallen. Daher gibt es auch keine Chance, einen vollständigen Chemotherapie-Zyklus für Leukämiepatienten zu sichern, weil die nötigen Medikamente und Zytostatika nicht kontinuierlich in den Irak gelangen. Während vergleichbare Leukämiefälle normalerweise bis zu etwa 90 Prozent heilbar sind, bedeuten sie - im Al-Mansur-Hospital diagnostiziert - das sichere Todesurteil.Die österreichische Radioonkologin Eva-Maria Hobiger, die sich seit zwei Jahren mit einem humanitären Hilfsprojekt ("Aladins Wunderlampe - Hilfe für krebskranke Kinder") engagiert, weiß um die Hindernisse, die ihr Konzept regelrecht paralysieren können, wenn sie Hilfsgüter ins Land bekommen will. Seit Anfang des Jahres wartet sie vergeblich auf die Genehmigung, simple medizinische Geräte wie Infusionspumpen und Zentrifugen, mit denen Blut aufgetrennt werden kann, einführen zu dürfen - für die Leukämiebehandlung unersetzliche Instrumente, in Westeuropa Standardausrüstung jedes Krankenhauses. Auch hier lautet die lapidare Begründung für den Einspruch aus New York: Eine militärische Nutzung sei nicht auszuschließen. "Ein Urteil, das täglich Menschen im Irak sterben lässt", die Wiener Medizinerin vermutet reine Willkür. Von den 20 Ländern, die im Sanktionskomitee sitzen, hatten in diesem konkreten Fall 19 dieser Hilfssendung "Unbedenklichkeit" attestiert, aber die Amerikaner legten ihr Veto ein.Auf dem Flur begegnen wir einer Frau, die auf ihrem Arm ein kleines Kind trägt. Wie versteinert hält sie uns eine Fotografie ihrer Tochter entgegen, auf der diese als ein hübsches Mädchen abgebildet ist. Vorsichtig nimmt Dr. Saad den Verband ab, der um den Kopf des Mädchens gewickelt ist - das ganze Gesicht des Kindes ist von Geschwüren fürchterlich entstellt. Ein Auge quillt förmlich aus dem zerbrechlich wirkenden kleinen Kopf hervor, dass es fast so scheint, als könnte es jeden Moment herausfallen. Seinen Mund kann das Mädchen nicht mehr schließen, so groß ist die Geschwulst im Gesicht, an der es zu ersticken droht. Eine Behandlung in Bagdad ist unmöglich. Das Kind wird qualvoll sterben, wortlos wendet sich die Mutter ab. Auch die Ärztin aus Europa kann ihr Kind nicht retten.Noch erschütternder als in Bagdad ist die Lage in der südlichen Hafenstadt Basra, unweit der Grenze zu Kuwait und Iran. Offene Abwässerkanäle ziehen sich durch verslumte Gassen. Ganze Viertel verfügen weder über Strom noch Trinkwasser. Nichts ist mehr vom Glanz einer Stadt geblieben, die einst das "Venedig des Orients" genannt wurde. Im Südirak, wo die Schiiten 1991 den Aufstand gegen Saddam Hussein wagten, um von der westlichen Golfkriegsallianz im Stich gelassen zu werden, finden noch weniger Hilfsgüter ihr Ziel.Während des Gesprächs mit Gabriel Kassab, dem Erzbischof von Basra, wird Fliegeralarm gegeben, ausgelöst vermutlich durch britische oder amerikanische Kampfjets. Ist dies schon der neue Krieg, den hier alle fürchten? Der Bischof wiegelt ab: "Kein Grund zur Panik! Normal für Basra, sicher schrecklich, aber es ist so." Während der Geistliche scheinbar unberührt weiter vom Schicksal der Menschen seines Landes spricht, ist im Hof des Kindergartens, den die kleine Diözese neben anderen karitativen Einrichtungen unterhält, doch Angst zu spüren. Geheul der Sirenen mischt sich mit dem Weinen der Kinder. Eine Ordenschwester, die die Kleinen betreut, führt sie ins Haus. Hier bekommen sie Spielzeug - ein Luxus im Irak - in die Hand gedrückt, das vom Luftalarm ablenken soll. Nicht diese Angriffe macht der Erzbischof vorrangig für das Desaster in Basra verantwortlich, sondern das Embargo. Das ganze Leben der Stadt sei wie gelähmt. Viele der Bewohner litten an Depressionen, Agonie habe sich breit gemacht, kaum jemand verfüge über einen Arbeitsplatz.Gabriel Kassab führt mich zur Kathedrale. Zweimal wurde das Gotteshaus in den vergangenen Jahren getroffen, eine Ruine ist geblieben, nur noch die Außenmauern sind erhalten. Handwerker versuchen, einen Teil des Innenraums wenigstens provisorisch herzurichten. Bis Weihnachten, so hofft der Bischof, werden sie soweit sein, dass in der Kirche die Christmette gefeiert werden kann. Mit einem Spachtel in der Hand kratzt er energisch am Mörtel einer verfallenen Wand: "So Gott will, bis Weihnachten."UN-Sanktionen gegen den Irak 1990-2002Von der Blockade betroffene Güter für:Wert in Millionen DollarElektrizitätsversorgung940Landwirtschaft787Instandhaltung Ölförderanlagen780Wasserversorgung652Medizintechnik650Telekommunikation542Gesamtwert der vom UN-Sanktionskomitee blockierten Waren5,4 Milliarden Dollar
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