Inseln der Seligen

Studentisches Leben In Universitätsstädten wimmelt es nur so vor linken Gruppen und Projekten. Eine Gratwanderung zwischen beeindruckendem Aktivismus und Entkoppelung vom Leben "da draußen"

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Wenn studentische Lesezirkel außer Kontrolle geraten - Oxford 1824
Wenn studentische Lesezirkel außer Kontrolle geraten - Oxford 1824

Foto: Hulton Archive/Getty Images)

Wer in einer Universitätsstadt in politisch "linken"/ "alternativen" Zusammenhängen aktiv werden will, hat es selten schwer. Vom feministischen Lesekreis über SDS-Gruppen bis hin zu antifaschistischen Initiativen unterschiedlichster Coleur bietet sich Menschen mit Elan und gutem Willen ein schier endloses Potpourri an Möglichkeiten, das nur darauf wartet entdeckt zu werden. Doch nicht selten führt das eigene Engagement in Paralleluniversen, welche sich so nur im wohlig-warmen Nest studentischen Lebens überhaupt denken lassen und die im Folgenden entlang zweier Schlagworte vermessen werden sollen.

"Ökonomistische Diskussionskulturen"

Es gehört zu den schönsten Vorzügen des Studierens: das Diskutieren, also das Ringen um neue Erkenntnisse oder die Revision liebgewonnener Denkschemata. Wie kommt man aber außerhalb des trögen Uni-Alltags und "konservativen" Profs., die lieber über Popper und Heidegger reden als sich mit Marx oder Butler herumzuschlagen an anregende Diskussionen? Richtig, über Lesekreise! Doch Vorsicht! Unter Umständen kann der Besuch eines solchen Gesprächsprojektes ernüchternder enden als die langweiligste Vorlesung über das "Leib-Seele" - Problem bei Descartes. Eine kleine Anekdote mag illustrieren, was der Autor meint.

Die Köpfe dampften. Zwei Sitzungen a 4 Stunden hatten sich die Studierenden völlig freiwillig bei viel Kaffee und noch mehr Zigaretten über Walter Benjamins "Über den Begriff der Geschichte" die Hirne zermartert. Ergebnis: Niemand verstand wer Benjamin war, was er mit diesem Text wollte und was es nun mit dem legendären "Angelus Novus" auf sich hatte. Schließlich wagte einer der Teilnehmer das Unfassbare. Er schlug vor, erst einmal einen neuen Aufsatz zu besprechen, da offensichtlich ein Erkenntnisfortschritt ob des mangelnden Wissens aller Beteiligten nicht möglich sei.

Umgehend wurde er von seinen sichtlich entrüsteten Kommiliton*innen zurecht gewiesen. "Erkenntnisfortschritt" sei eine westlich imprägnierte, ökonomistische Kategorie und könne daher unter keinen Umständen leitend für die Arbeit im Lesezirkel sein. Oder übersetzt: Der, der sich mit Texten beschäftigt, nur um sein Wissen zu mehren, der ist schon beinahe der barbarischste Großkapitalist aller Zeiten.

"Konsensentscheidung"

Wer sich an Universitäten für die Belange seiner Mitstudierenden einsetzen will, der tut dies häufig zunächst über Arbeit in der hiesigen Fachschaft - der Studierendenvertretung auf Ebene der Fachbereiche. Dort wird die nächste Veranstaltungsreihe oder Studi-Party geplant, über die aktuellen Skandale in den Seminaren der Prof.'s X und Y beraten und abgestimmt, welche Positionen die Studierendenschaft - repräsentiert durch die Fachschaft - in bestimmten Sachfragen in den nächsthöheren Fachbereichsgremien vertreten wird - besonders letzteres jedoch nicht selten nur in der Theorie.

Denn Abstimmungen geraten in derartigen Plena oft zur Farce. Der Grund heißt "Konsensentscheidung". Obwohl einfache Mehrheiten für Beschlüsse ausreichen würden, muss auch der oder die letzte Zweifelnde noch irgendwie von der Richtigkeit eines bestimmten Vorhabens überzeugt werden. Solange keine Einstimmigkeit darüber herrscht, dass die Anschaffung einer neuen Tragetasche für den Fachschafts-Beamer sinnvoll sein könnte, wird sie eben nicht erworben. Solch elementar wichtige Debatten können dann auch schon mal dazu führen, dass sich das Prozedere über 3 Jahre hinzieht.

Die Angst vor auch nur graduellem Dissens verschleppt periphere Probleme über Jahre. Und da auch möglichst jede Woche über sie geredet werden muss, betreibt man den größten Teil des Semester hoch informierte Selbstbetrachtung. Dass die meisten Studierenden des Fachbereiches daher von der Existenz der Fachschaft höchstens deshalb wissen, weil sie den günstigeren Kaffee als die Mensa verkauft, überrascht daher kaum.

"Paradiesische Zustände"

Solche Debatten stehen Pars pro toto für Zustände in deutschen Hochschulstädten, deren politisch aktive Studierenden ab und an die Fühlung zur Welt außerhalb des Elfenbeinturms "Universität" verloren haben. Es sind wahrlich "paradiesische Zustände", wenn man sich über lösungsorientierte Problembewältigung keine Gedanken machen muss.

Um nicht falsch verstanden zu werden: kapitalistische Denk- und Normstrukturen müssen überall analysiert und kritisiert werden. Und freilich ist eine Konsensentscheidung ein positiveres Signal als eine "schwache" einfache Mehrheit. Doch die Menschen außerhalb des Uni-Campus, die bei Wahlen immernoch oft Politiker*innen ihre Stimmen geben, welche aus akademischen Milieus stammen bzw. an Universitäten sozialisiert wurden, erwarten schnelle und möglichst umfassende Lösungen für alltägliche größere und kleinere Probleme, nicht das Schwadronieren über Themen, die mit ihrer Lebenswirklichkeit rein gar nichts zu tun haben.

Erst wenn das Schiff von der "Insel der Seligen" aus ablegt und die Wellen des Alltags zu spüren bekommt, wird klar, was an Ankern, Kompassen und Rettungsringen, deren Benutzung die Besatzung an der Universität gelernt hat, sich auf hoher See bewähren wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Johannes Häfner

Historiker, Büroleiter Bodo Ramelow in der Thüringer Staatskanzlei

Johannes Häfner

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