Wegweiser, Vorbereiter

Faschismus „Wer waren die Nationalsozialisten?“, fragt Ulrich Herbert. Und antwortet fundiert
Ausgabe 26/2021

Ulrich Herberts Buch kommt zur rechten Zeit. Es steht gegen aktuelle Tendenzen, deutsche Geschichte umzudeuten. Der bekannte Freiburger Zeithistoriker ist für moderne Moden nicht zu haben. Er versteht sein Handwerk. Wer wissen will, wer die Nationalsozialisten waren, erfährt in seinem Buch viel über den Charakter dieser Diktatur im Deutschland nach 1933. In elf Kapiteln stellt Herbert Erklärungsversuche vor, wie die Welt- und Geschichtsbilder der Nazis aussahen, woran sie anknüpfen konnten. Er verweist auf Ursprünge, die weit ins 19. Jahrhundert reichen, in dem völkischer Nationalismus und Antisemitismus Land und Leute vergifteten. Kurz und knapp, übersichtlich und vor allem wissenschaftlich fundiert.

Sein Augenmerk gilt dem Werden des Massenanhangs der NSDAP am Ende von Weimar, als sich die verschiedenen Gruppierungen und Richtungen der deutschen Rechten zusammenfanden, um die Republik zu beseitigen: „Die Konservative Revolution als Gruppierung aristokratisch-revolutionärer nationalistischer Denker; die Deutschnationalen und der Stahlhelm; die ästhetisierenden soldatischen Nationalisten; die völkischen Schwärmer; die Traditionskonservativen mit vielfältigen Verästelungen; die zwischen Republik und Diktatur oszillierenden Leute vom Jungdeutschen Orden – und von all diesen Gruppen separiert: Hitler und die Nationalsozialisten.“

Ohne den deutschen Militarismus jedoch, die völkisch-nationalistischen Ideen, ohne Angriffskrieg als Präventivmaßnahme getarnt, verlorenen Krieg und Revolution, die von weiten Teilen so empfundene Schmach über den Versailler Vertrag und ohne eine deutsche Gesellschaft mit ihren Traditionen und ihrem Entwicklungsstand sei der 30. Januar 1933 nur schwer vorstellbar. Wichtige Voraussetzungen, die in der Weltwirtschaftskrise nach 1929 den Nationalsozialisten aus eben den von Herbert geschilderten politischen Strömungen der Rechten den Massenanhang verschafften, bei gleichzeitiger Uneinigkeit des republikanischen Lagers. Ein demokratisches Wahlrecht reicht für sich genommen nicht aus, da bedarf es weiterer Sicherungen. Auch sind Behauptungen, die Nazis seien durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen, trügerisch. Sie beruhen auf Halbwahrheiten. Was demokratische Kulturen überhaupt konstituiert, ist nicht die demokratische Republik, sind nicht nur die Normative, vielmehr gelebte wirkliche Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Die rohe Ungeistigkeit

Seit den 1890er-Jahren habe sich schon vor allem in der jungen Generation des deutschen Bürgertums ein Gegenmodell zur liberalen Welt von 1789 und 1848 aufgebaut, die nach ihrer Auffassung offensichtlich gescheitert sei. Statt auf Rechte und die Würde des Menschen setzte man auf Volk und Rasse; statt auf Toleranz und Interessenausgleich auf politische Biologie, Antisemitismus und territoriale Expansion. Immer entscheidender wurde, wer nicht zum „Volke“ gehörte, wer zwar Staatsbürger, aber nicht „deutscher Abstammung“ war. Die Ereignisse der Nachkriegsjahre nach 1918 verliehen den ideologischen Grundpositionen der radikalen Rechten in größeren Teilen der Bevölkerung, im deutschen Bürgertum, tiefgreifende Legitimation. Viele Konservative und Deutschnationale stieß zwar die „rohe Ungeistigkeit“ der NSDAP-Leute ab, aber nicht ihre Programmatik: Zerschlagung der Republik und des Parlamentarismus, also Abschaffung des demokratischen Wahlrechts, Zerschlagung der Arbeiterbewegung, Revanche für den verlorenen Weltkrieg, Aussonderung der kranken und schwachen Teile des Volkes und antijüdische Gesetze.

Wer also waren die Nationalsozialisten? Herbert beantwortet die Frage in überzeugender Manier so: „Der sozialpolitisch Konservative, der die Deutsche Arbeitsfront (anstelle freier Gewerkschaften) und Hitler für einen Emporkömmling hielt, konnte gleichwohl ein radikaler Judenfeind sein. Ein kunstsinniger Edelmann entpuppt sich als skrupelloser Volkstumskämpfer. Ein pflichtbewusster Finanzbeamter fungiert als Organisator der Arisierung und der fiskalischen Ausbeutung Polens. Der herausragende General, in dessen Umfeld der 20. Juli organisiert wurde, war zugleich an der Vorbereitung des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion beteiligt.“

Für uns heute muss das doch heißen, dass, um Demokratie zu leben, sehr viel mehr dazugehört als ein Wahlrecht und Frauenbaden im Wannsee, wie die Münchner Bundeswehr-Historikerin Hedwig Richter glaubt. Wir müssen die Frage stellen, was fehlt in unserer Demokratie. Sie muss in der Gesellschaft und der politischen Kultur verankert sein, ständig gelebt und erweitert werden. In Kaiserreich und Weimarer Republik war sie gerade nicht ausgeprägt genug, um den Nationalsozialismus klein- und aufzuhalten, was an der besonderen deutschen Geschichte liegt (siehe Heinrich August Winkler im Merkur). Diese Geschichtslosigkeit und glorifizierende Umdeutung deutscher Geschichte kritisiert der Schriftsteller Maxim Biller in der Zeit scharf, wenn er über Hedwig Richter urteilt, dass sie „(...) gerade unter großem Applaus des neupreußischen Linksbürgertums das autoritäre, den Judenhass schwitzende Kaiserreich zu einem Paradies für Arbeiter und Frauen umdeutete und der Weimarer Demokratie die alleinige Schuld am Erfolg der Nazis gab.“ Die besondere deutsche Geschichte, die völkisch-nationalistischen Traditionen in ihren Ausprägungen und Ausbreitungen, die schließlich zum Mord an den Juden und anderen Völkern führten, und vor allem der Mangel an demokratischer Kultur in großen Teilen der Gesellschaft werden von Ulrich Herbert eindrucksvoll untermauert, ohne dass er sich explizit mit der Debatte über den deutschen Sonderweg befasst.

Info

Wer waren die Nationalsozialisten? Ulrich Herbert Verlag C. H. Beck 2021, 303 S., 24 €

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