Lemminge sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren - und der homo sapiens?

Augen zu und durch - na klar! Angesichts der köchelnden Unzufriedenheit auf hohem Niveau bleibt weiter die Frage offen, wann wir Europäer endlich anfangen, die bisherige klimatische Gunst des Kontinents nicht zu verspielen

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Das Fluchtmodell der Lemminge

So wie die Selbstmordtheorie in Sachen Fluchtverhalten der Lemminge längst als falsch widerlegt ist, so ein-Tags-Fliegen-Tango-haft schlingern in Dauerschleife Katastrophen-Szenarien durch die Cloud bis in die Video-Spiele, auf dass sich der homo sapiens sapiens ordentlich gruseln möge – aber ansonsten weiter macht wie bisher: konsumieren bis zum Anschlag, mehr verdienen bis zum Umfallen und weiter fliegen bis ins Weltall.

Unser Kurzzeitgedächtnis ist jedenfalls nach wie vor bemüht, die Überfülle an Weltuntergangsstimmungen weich zu kochen und als überflüssiger Sud wegzuschütten – im Sekundentakt. Selbst wenn so jemand wie Jared Diamond – seines Zeichens Evolutionsbiologe – ein statement raus lässt wie:

„Wir leben in der krisenhaftesten Zeit aller Zeiten“

sind wir Konsumenten höchstens leicht amused ob solcher Superlative, an die wir uns doch längst als basso continuo der Werbesprache gewöhnt haben.

Dann wechseln wir die Seite und schauen uns staunend den Krater vom Nördlingen Ries an, wo vor ungefähr 15 Millionen Jahren ein Asteroid eingeschlagen war. Oder bestaunen mit unseren Kleinen in Kinderbüchern dramatische Bilder an über das Dinosaurier-Sterben, als sich die Welt für lange verdunkelte.

Ansonsten stürmen wir – als Entschuldigung gilt praktischerweise die Pandemie mit ihren Strangulierungen – die Abfertigungshallen der Flughäfen, ertragen stoisch oder cholerisch nie gesehene Warteschlangen und sind so was von gelassen, dass wir glatt das Gepäck zurücklassen, wenn wir es nur noch in den Flieger schaffen.

Oder fahren in Gluthitze Tausende von Kilometern in die Waldbrand-hot-spots, um auch möglichst dramatische Filmchen posten zu können, wie nahe man der nächsten Katastrophe mal wieder ein Schnippchen geschlagen hat.

Wir sind eben unverwüstliche Tagträumer, die die Klimakrise, CO²-ausstoß und Vermüllung der Meere genauso analytisch wegdiskutieren können wie den Krieg – wo auch immer er gerade stattfindet: Drogenkrieg, Religionskrieg, Resourcenkrieg, Hegemonie-Krieg. Immer sehen wir uns selbst dann eher als zeitgenössische und kritische Betrachter, aber nicht als willfährige Täter. Und voll empathisch natürlich.

Dadurch ist es uns ja auch möglich, weiter nach Dienstplan unseren Alltag und unsere Freizeit zu gestalten, als wären Daten eben nur Daten und nicht bloß Zahlen für eine dummdreiste Zerstörungswut von Milliarden von Egos, die lediglich ihr eigenes Fortkommen im Auge haben. Lemminge eben.

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Geschrieben von

Johannes Seiler

Alles Erinnern ist Erfinden und alles Erfinden Erinnern

Johannes Seiler

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