Und wieder wird mit Tabellen hantiert, Prognosen - wie in der Pandemie - haben Konkunktur

Krisengewinnler freuen sich Deutschland ist so übervoll mit Wohlstandsgütern aller Art, da ist auch ohne fremdes Öl, Gas und Kohle weiter ein lebenwertes Leben möglich. Wasser, Wind und Sonne sind kraftvolle Partner in dieser Situation. Also nichts wie ran!

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Der Musterknabe mit dem Rücken zur Wand?

Fast ein modernes Märchen.

Was war er doch für ein Häufchen Elend – damals im Frühling 1945! Alle kühnen Blütenträume zu Staub verpulvert. Alles in Trümmern, alles zerronnen. Aber unser Stehaufmännchen krempelte die Ärmel hoch, packte an – vor allem die Frauen, denn Männer waren damals Mangelware: entweder tot, gefangen oder auf der Flucht vor den Siegern – und klopfte Steine sauber. Gleichzeitig wollte er zerknirscht dem Sieger zeigen: Wir können auch anders. Wir können fleißig sein, bescheiden, gehorsam sowieso. Nun eben den Siegern – hüben wie drüben.

Es galt, neues Vertrauen aufzubauen. Es galt, den als Lügen entlarvten Volksliedern abzuschwören. Es galt, sich ganz hinten anzustellen, stumm und fleißig zu arbeiten und am Wiederaufbau neue Stärke zu beweisen.

So vergingen die Jahre.

Drei große Brüder mussten in ihrem wohl verständlichen Misstrauen positiv überrascht werden. Einmal der ganz große Bruder von jenseits des Atlantiks, dann der schlimm gebeutelte Bruder im Osten und der überrannte Bruder in Europa. Wie die drei Äffchen hielten sie es mit ihrer mörderischen Vergangenheit: stumm, taub und blind einfach nach vorne schauen und die Hände, die ihnen zögerlich und natürlich sehr eigennützig dann doch gereicht wurden, verschämt ergreifen und ordentlich festhalten.

So vergingen die Jahre.

Unser verstörter Knabe aus dem Jahre 1945 war inzwischen zu einem properen Musterknabe herangewachsen. Politik überließ er gerne seinen großen Brüdern in West und Ost, er selbst hielt es stattdessen mit der Wirtschaft und den Zahlen und dem Geld. Non olet.

In seinem nicht zu bremsenden Übereifer kopierte er gnadenlos „the american way of life“, profilierte sich als Über-Europäer neuer Prägung und setzte voll auf Entspannung und Annäherung durch geduldigen Handel und Wandel auch nach Osten. Und als ganz neuer großer Bruder kam im fernen Osten die gerade ganz große aufgehende Sonne hinzu.

Und so vergingen die Jahre.

Bis eines Tages aus heiterem Himmel – scheinbar – der erfolgreiche Musterknabe vor einem weltweiten Scherbenhaufen stand: In Übersee zog der große Bruder so was vom Leder, als wären die vergangenen Anstrengungen gar nichts gewesen, als wäre der Musterknabe ein fauler Bursche. Und im Osten entpuppte sich der Partner als brauner Bär, der nur geduldig gewartet hatte, bis seine Stunde endlich schlug. Und der ferne große Bruder im noch entfernteren Osten diktierte eiskalt die geschäftlichen Bedingungen nach Gutsherren Art.

Die weltweiten Abhängigkeiten, in die sich unser Musterknabe hinein gewirtschaftet hatte, die man gerne als fair und günstig nicht müde wurde zu loben und zu beschwören, sind über Nacht zu Sachzwängen geworden,

aus denen man keinen Ausweg glaubt ausmachen zu können.

Weit gefehlt, Musterknabe!

Erinnere dich nur an die vier Jahre nach Kriegsende!

Da gab es weder Öl, noch Kohle, noch Gas. Nur ein bisschen Holz vielleicht. Und nicht mal ein intaktes Dach über dem Kopf. Aber man lebte noch, wenn auch ziemlich ramponiert. Und erlebte, mit wie wenig man über die Runden kommen konnte, wie wenig ausreichte zu überleben, wie wenig genügte, um Karneval zu feiern, Geburtstage, Namenstage, Jahrestage.

Doch davon ist der Musterknabe heute Äonen entfernt. Und dennoch plappern die Medien von Krise, von Entbehrung, von unabsehbaren Folgen. Die Verwöhnung hat dem Musterknaben den Kopf völlig vernebelt. Denn solidarisch lässt sich das, was in dieser Wohlstandsgesellschaft auf die Menschen zukommt – vor allem vor dem Hintergrund der Bilder aus der Ukraine – wirklich wuppen: Mit dem Rücken an der Wand steht der Musterknabe ganz und gar nicht da, er steht angesichts des Rückblicks in die Geschichte beileibe mit beiden Füßen auf dem Boden. Es gibt wirklich Wichtigeres als Öl, Gas und Kohle – der Musterknabe muss sich nur an seine Talente und seinen unverwüstlichen Überlebenswillen erinnern lassen.

Angesichts der Klimakatastrophe, die gleichzeitig gerade so richtig Fahrt aufnimmt, kann er sich endlich auf das Wesentlich im Leben konzentrieren: Auf das Leben, seine Natur.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Johannes Seiler

Alles Erinnern ist Erfinden und alles Erfinden Erinnern

Johannes Seiler

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