Pandemie und Kapitalismus - wie Zwillinge unterwegs

Dialog zum Thema Pandemie Die Sprache hilft uns eilfertig, unsere innere Flucht vor der eigenen Angst wortreich zu bemänteln - Pandemie und Kapitalismus: zwei Muster, die uns im Hamsterrad der Selbstbetrugsphantasien weiter auf Trab halten

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Mit wachsendem Tempo durchs turbulente Trugbild der Sprache

D i a l o g

Der eine: „Die Leute haben einfach keine Lust mehr auf schlechte Laune, Bevormundung durch den Staat, Stillhalten. Die wollen einfach jetzt ihren Spaß haben. Wie sollen die denn zu Weltveränderern werden?“

Der andere: „Ach, spielst du jetzt den Fatalisten? Können ja sowieso nichts ändern? Was für eine erbärmliche Selbstbetrugs-Posse!“

Der eine: „Hör mal, du siehst dich also auf der Seite der Durchblicker, der „die Wahrheit beim Namen nennen“- Rufer in der Wüste: vielleicht hast du ja sogar schon das passende Karnevalskostüm dafür?“

Der andere: „Auch die Zeit für Scherze ist vorbei. Was glaubst du eigentlich, warum facebook in Zukunft „Meta“ heißen wird?

Der eine: „Na, der Zuckerberg will einfach ein bisschen Abwechslung in den grauen Pixel-Alltag bringen, denke ich.“

Der andere: „So naiv sein können wir uns jetzt aber wirklich nicht mehr leisten. Ich will es mal auf den Punkt bringen: Das ganze Evangelium von der Digitalisierung (vor allem endlich auch in den Schulen!) ist nichts anderes als ein globales Placebo, damit der Konsument seine double-fear losbekommt.“

Der eine: „Was ist das denn jetzt für ein Anglizismus, den hab ich ja noch nie gehört? Wenn du aufklären willst, solltest du nicht in Rätseln zum Konsumenten sprechen, mein Lieber!“

Der andere: „Schau sie dir doch an, die erfolgreichen Frauen und Männer in den Broker-Zentren! Denen steht die Angst doch ins Gesicht geschrieben. Nur ja keine Fehler machen, nur ja gute Zahlen präsentieren beim nächsten hearing, nur ja nicht den Konkurrenten an sich vorbei ziehen lassen!“

Der eine: „Ach so, du meinst den Konkurrenzkampf, klar der ist hart und unerbittlich und global vernetzt, stimmt. Da hat man natürlich in seiner Hausapotheke ein paar Pillen, die einem über den hektischen Tag helfen werden, klar. Und drunter weiter diese Angst, klar. Und die andere Angst in deinem double-fear-Feuerwerk?“

Der andere: „Die andere Angst ist natürlich die vor der Zukunft, die ja gar nicht mehr rosig aussieht. Klimawandel, Naturkatastrophen direkt vor der Haustür seit neuestem (siehe Ahrtal oder Palma-Vulkan, um nur zwei zu nennen, von dem Tornado in Kentucky hast du ja sicher auch gehört oder?). Wie soll man denn mit dieser Angst umgehen? Pillen gibt es dagegen noch nicht. So helfen wir uns eben mit einem intensiven Pixel-Pillen-Cocktail und da wären wir dann auch wieder beim Metaversum aus dem sonnigen Californien.“

Der eine: „Gruselig, ehrlich. Das sieht ja fast so aus, als würden wir freiwillig in eine neue Matrix einchecken.“

Der andere: „Du bringst es auf den Punkt. Angst fressen Seele auf.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Johannes Seiler

Alles Erinnern ist Erfinden und alles Erfinden Erinnern

Johannes Seiler

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