Europa muss sich endlich ganz neu erfinden - jenseits von Ausbeutung und weißem Rassismus

Weniger ist viel mehr als mehr Die Geschichte Europas war bisher ein gewaltsamer Aneignungsprozess von Menschen und Dingen. Folgen: Zerstörung, Hass, Gewalt. Ein echter Neuanfang jenseits solcher Muster tut not - mit dem Rücken an der Wand: gewogen - zu leicht befunden!

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Europa muss sich völlig neu erfinden.

1945 – die große Kriegsallianz zerfällt: USA und UdSSR – bis dahin Partner im Krieg gegen die Achsenmächte – werden über Nacht zu bitter bösen Feinden, die alles daran setzen, ihre eigenen Interessensphären gegen die des anderen zu sichern – weltweit. Europa muss sich dieser neuen Situation beugen.

In den Schulen wird in den Geschichtsbüchern ein Weltbild eingeübt, das in Klassenarbeiten und Klausuren Jahr für Jahr abgefragt wird. Der Ost-West-Konflikt und die Angst vor einem Atomkrieg bestimmen die Sprache und das Bewusstsein der Nachkriegsgenerationen. Der Antikommunismus im Westen wird zur selbstverständlichen Denkgrundlage der nachwachsenden Jugend. Es gibt nur noch den guten, demokratischen Westen und den bösen, sozialistischen Osten.

1989 – ein Jahr voller Zufälle, die Folgen hatten, die man sich bis dahin auf der Welt beim besten Willen nicht vorstellen konnte: Die Mauer in Berlin, die DDR verschwinden gewissermaßen über Nacht. Der Ost-West-Konflikt zerbröselt zu einer „One-World-Vision“, die von der Wirtschaftsform des Westens nun global als alternativlos propagiert wird und zu verinnerlichen ist.

Die in den vierziger und fünfziger Jahren Geborenen müssen das für richtig Geglaubte nun an der Garderobe abgeben und sich in neue geistige Gewänder hüllen. Dabei gibt es einige Gewinner, aber auch viel zu viele Verlierer. Das Vertrauen in neue Denkangebote sinkt und sinkt.

Als Alternative zum politischen Bürger bietet sich nun der egoistische Konsument an als Geisteshaltung. Der Zusammenhalt in Europa, der notdürftig über die Angst vor dem ganz großen Krieg erzwungen worden war, zerfällt in eine individuelle Bereicherungs- und Unterhaltungseuphorie, die vordergründig aussieht wie eine Welt, in der alle sich ähnlich scheinen, sich aber alle vor dem anderen – zumindest materiell – unterscheiden sollen und wollen.

Im Lockdown entpuppt sich dann das ökonomische Spiel als Einsamkeitshölle, die nur mit viel Lärm und grellem Licht übertüncht war.

2022 – wieder müssen wertgeschätzte politische Grundsätze über Bord geworfen werden; aber statt nach vorne zu denken, holen sich nun die politischen Akteure verstaubte Bilder aus der Vergangenheit und glauben, die Nato, Aufrüstung und erhöhte Militärausgaben würden das aktuelle Problem, das man bis dato für unvorstellbar hielt, lösen helfen.

Dabei ist doch längst überdeutlich, dass die Bekämpfung der Klimakatastrophe keinen Aufschub mehr duldet – how dare you – doch sowohl die Pandemie, als auch der Überfall auf die Ukraine schaffen über Nacht eine völlig neue Prioritätenliste. Greta Thunbergs Kassandrarufe können so endlich in den Hintergrund gedrängt werden.

Die Fixierung der Bevölkerung auf wissenschaftliche Daten in Sachen Corona und die Bereitschaft, eigenes Denken und Handeln (Freiheitseinschränkungen eingeschlossen) dementsprechend zu ändern, stehen in bizarrem Kontrast zu der Verweigerung, die wissenschaftlichen Daten in Sachen Klimaschutz in eigene Verhaltensänderungen einzuspeisen. Selbst die Mobilitätskonzepte bleiben rückwärtsgewandt – zwar nun elektrisch gespeist, aber weiter auf einen weiter wachsenden Individualverkehr bezogen.

Summa: alle Denkmuster in der momentanen Situation bleiben im Hamsterrad der Konkurrenz, des Wachstums und des Egoismus befangen und werden die Katastrophenszenarien nur dramatisch global ausweiten.

Energie energisch zu sparen und nur noch regional und bedarfsdeckend zu produzieren – das wäre ein neuer nie dagewesener Zusammenhalt in Europa, der vielleicht doch noch die Abschaffung der species verhindern könnte.

Kriegsspiele auf der Konsole – meinetwegen – aber Kriegsspiele in der europäischen Wirklichkeit? Dafür bleibt uns einfach keine Zeit mehr. Warum lassen sich die Europäer denn da vor den Karren eines Mannes spannen, dessen Bilderwelt aus einem Jahrhundert stammen, das sich als unmenschlich erwiesen hat?

So sollten die Europäer nicht mithelfen, erneut einen Ost-West-Konflikt zu befeuern und auch nicht erneut den Amerikanern als Pufferzone zu dienen, sondern nachhaltig zu entschleunigen: Keine Lastwagen mehr, dafür die Schiene nutzen, öffentliche Mobilität radikal nach vorne bringen und endgültig auf fossile Brennstoffe ganz verzichten. Der Zusammenhalt, der darin wachsen würde – schließlich würden sich alle solidarisch und gerne einschränken – wäre die Morgenröte in die Rettung des Planeten. Die derzeitige Krise ist d i e Chance, es endlich mutig zu wagen!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Johannes Seiler

Alles Erinnern ist Erfinden und alles Erfinden Erinnern

Johannes Seiler

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