Zaudern war den Unsicheren schon immer ein Ärgernis. Das Bedenken aber braucht Zeit

Zeit für Nachdenken rettet. Die Spirale der pausenlosen Info-Theken und Erwiderungen lässt angesichts von Gewalt und Krieg scheinbar keine Zeit für Abwägen, Bedenken, Pausen im Handeln wie im Sprechen. So werden wir die Getriebenen, die über Getriebene lästern.

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Für Zwischentöne und Zaudern keine Zeit!

Dank des sogenannten Fortschritts befeuern wir Europäer unseren hellwachen Verstand pausenlos mit Informationen, Bildern, Fragen und Antworten. Das Tempo nimmt zu. Tag und Nacht. Scheinbar können wir uns Pausen, Leerzeiten und Langeweile nicht mehr leisten – einmal, weil durch die globale Vernetzung einfach dauernd Neues zu lernen und zu beurteilen ist, und einmal, weil die desaströsen Fakten, die unsere wachsende Fortschrittsgesellschaft geschaffen hat, so fatal und implodierend neue Fakten schaffen, die zwar nicht gewollt, aber immer mehr von uns als alternativlos angesehen werden müssen, dass nur noch die Beschleunigung die Lösung zu sein scheint.

Dass aber alle Bilder, die wir aus der Erinnerung heraus für das Verstehen der neuen Fakten wieder benutzen, bereits Erfindungen unserer Phantasie waren, kann leider nicht mehr bedacht werden, weil sich nicht nur die Ereignisse überschlagen (bildlich genauso wie wirklich), sondern auch die Konsequenzen.

Die sogenannte Globalisierung ist in diesem Brandsatz wachsender Zerstörung von Außen- wie Innenwelten nichts anderes als ein Bumerang, der die theoretischen Überlegungen der Aufklärung praktisch in Übersee in unerbittliche Praxis umgesetzt hat (Fließbandarbeit, völlige Entfremdung der Arbeitenden von sich und dem Erarbeiteten, der Mensch als Ware und zahllosen anderen Hungernden weltweit, bei gleichzeitiger bizarrer Konzentration von Eigentum und Gewinn in den Händen sehr weniger, gepaart von zunehmender Gewaltbereitschaft gegen sich selbst so wie gegen jeden Konkurrenten). Von dort – von Übersee – schwappt der Bumerang nun zurück ins verblendete Europa, das auf der Flucht vor der radikalen Auseinandersetzung mit sich selbst und den Geistern, die es rief, das Tempo nun in die cloud ausgelagert hat, weil da ununterbrochen in „Echtzeit“ geredet und erwidert werden kann. Nur noch der Schlaf ist ein ärgerlicher Frustfaktor, der ähnlich wie der Tod aber sicher demnächst nicht nur in der cloud, sondern auch vor Ort für überflüssig, abwegig, kontraproduktiv erklärt werden wird, weil er nichts anderes ist als einer der ganz alten Irrwege der Natur, an die sich der homo sapiens leichtfertig gewöhnt hatte, als wäre er natürlich. Wie dumm aber auch!

Wenn also in der wirren Gemengelage der Gegenwart in Europa jemand tatsächlich meint anmerken zu müssen, dass es uns Europäern gut täte, einen Augenblick aus dem mainstream auszusteigen, inne zu halten und zu zögern, um sich Zeit zu gönnen, die scheinbar klaren Positionen der Falken und Tauben zu durchleuchten (auf ihre kurzzeitigen Glanzlichter und alternativlosen Wahrheiten!), der muss dann doch leider als Defätist die rote Karte bekommen.

Einwände? Welche Einwände?

Keine, natürlich!

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Geschrieben von

Johannes Seiler

Alles Erinnern ist Erfinden und alles Erfinden Erinnern

Johannes Seiler

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